Eine Veranstaltung am Montagabend im Schwulen Museum in Berlin warf viele Fragen auf und gerade das machte sie interessant. „Sind Hausbesetzungen Geschichte? Die Mainzer Straße 1990 bis heute“ war der Titel. Manche subkulturelle Begleiterscheinung der historischen Besetzerbewegung mag heute vielleicht etwas in die Jahre gekommen sein – aktueller denn je ist aber der Kampf um bezahlbaren Wohnraum. Zu Beginn erklang im vollbesetzten Versammlungsraum des Schwulen Museums Berlin die Hymne der Hausbesetzer der Mainzer Straße in Berlin-Friedrichshain. Doch wie kommt der mehr als 30 Jahre alte Song – die Besetzung fand schließlich im November 1990 statt – ausgerechnet an diesen Ort? Hintergrund sind zwei unterschiedliche Anlässe, die zeigen, …
… dass die nur wenige Monate existierende Besetzung der Mainzer Straße noch immer Interesse auch bei einer jüngeren Generation, die bei der Räumung der Mainzer Straße teilweise noch nicht geboren war, findet.
Am 13. Februar endet die Ausstellung „Der kurze Sommer über den schwulen Kommunismus“„, die das „Tuntenhaus“ zum Thema hat – bis heute wohl eines der bekanntesten der zwölf damals besetzten Häuser. Der Titel verweist auf den Schriftsteller und schwulen Kommunisten Ronald M. Schernikau, der auf einer Veranstaltung im Max-Hölz-Buchladen des Tuntenhauses aufgetreten war. Ein kurzer Mitschnitt ist in der Ausstellung zu finden.
Traum, Trauma und Mythos um die Mainzer Straße
Unabhängig von dem Ausstellungsprojekt stellten Tom Keltermann und Jakob Saß die Thesen ihres 2020 erschienenes Buches „Traum und Trauma – die Besetzung und Räumung der Mainzer Straße 1990 in Ostberlin“ vor.
Die beiden Historiker am Leibniz-Zentrum für zeitgeschichtliche Forschung haben für das Buch mit ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern der Mainzer Straße, Anwohnern und damals für die Räumung verantwortlichen Politikern gesprochen – ebenso mit solchen, die sie ablehnten.
Dabei fiel ihnen auf, dass es am schwersten war, ehemalige Besetzerinnen und Besetzer für das Projekt zu gewinnen. Eine Frau hatte ein Interview am Ende zurückgezogen, wobei die Gründe nicht ganz klar wurden. Die Schwierigkeit, an Artefakte aus der Besetzerzeit zu kommen, bestätigte auch Anette Klump, die 1990 bis zum Schluss mit Verhandlungen die Räumung verhindern wollte und 30 Jahre später ein Archiv der Mainzer Straße aufbaute.
„Wir haben kaum Spuren und Zeugnisse gefunden“, so Klump. Doch sofort meldeten sich Ex-Besetzerinnen zu Wort, die teilweise im Frauen-und Lesbenhaus in der Mainzer Straße gewohnt hatten und beteuerten, sie könnten auf jeden Fall etwas zur Geschichte beitragen.
So scheint es, dass neben den Trauma der sehr gewaltvollen Räumung der Häuser, durch die Bewohner in alle Winde verstreut wurden und eine gemeinsame politische Aufarbeitung nicht zustande kam, vielleicht auch Spannungen und Konflikte aus der Besetzerinnenzeit dazu beitragen, dass es selbst nach drei Jahrzehnten noch schwierig ist, eine gemeinsame Geschichte zu erzählen. Dabei ist klar, dass es keine einheitliche Geschichte ist, sondern dass es sehr viele Konflikte und Geschichten gibt.
Ost-West-Konflikt in der Besetzerbewegung
Auch der Stadtsoziologe Andrej Holm beteiligte sich nicht nur als Wissenschaftler an der Debatte. Er war Anfang der 1990er-Jahre Hausbesetzer im Stadtteil Prenzlauer Berg – die dort Beteiligten gerieten durch die Räumung der Mainzer Straße unter Druck, schnell Verträge abzuschließen, weil die Drohung einer weiteren Räumung im Raum stand.
Holm berichtete auch über den Ost-West-Konflikt in der Besetzerbewegung, den er als Aktivist aus dem Osten damals hautnah miterlebt hatte. So musste zum Beispiel ein Redebeitrag für eine linke Großdemonstration erst von West-Autonomen gegengelesen und auf deren Stand der Diskussion gebracht werden.
Diese Art Bevormundung führte bald dazu, dass sich Besetzer mit Ost-Sozialisation separat organisierten und auch für einige Zeit eine eigene Besetzerzeitung herausgaben. Auch die identitätspolitischen Konflikte in der Mainzer Straße kamen bei der Diskussion am Montag noch zur Sprache.
Räumung als kapitalistische Landnahme
Durch diese Binnensicht geriet etwas aus den Blick, dass die Räumung der besetzen Häuser noch eine andere Ost-West-Komponente hatte, die schon unmittelbar nach der Räumung von DDR-Bürgern angesprochen wurde, die durchaus nicht zu den Verteidigern der Besetzer zählten.
Mit der besonders gewaltvollen Räumung sollte auch ihnen wenige Wochen vor der formellen Wiedervereinigung deutlich gemacht werden: Jetzt herrscht der Kapitalismus und da wird das Privateigentum mit allen Mitteln verteidigt. Das war auch eine Botschaft an Beteiligte der damals virulenten Fabrikbesetzungen, mit denen sich in den Jahren 1990/1991 ganze Belegschaften gegen die von der Treuhand bewerkstelligte Deindustrialisierung der DDR wehrten.
Der Klassenwiderspruch kam überhaupt bei der Diskussion etwas zu kurz. Mit Katrin Girgensohn beteiligte sich auch eine Ex-Besetzerin der Mainzer Straße, die heute Professorin für Schreibwissenschaft ist, an der Diskussion.
Ihre Erfahrungen in und mit der Mainzer Straße und der Räumung hatte sie bereits 2011 in dem Buch „Der Mond, die Spree, das Bier“ literarisch verarbeitet. Ihre Motivation, in eines der besetzten Häuser zu ziehen, war übrigens primär die Suche nach einem Zimmer als westdeutsche Studentin.
Das war auch der Antrieb für Stino, der seine Zeit als Hausbesetzer in Berlin-Friedrichshain in dem im Selbstverlag herausgegebenen Buch „Von West nach Ost durch Berlin 1990 verarbeitete. Die Räumung der Mainzer Straße spielt dort auch eine wichtige Rolle.
Auf der Veranstaltung wurde deutlich, wie die Besetzerbewegung auch Menschen geprägt hat, die nicht in den Häusern wohnten. So berichtete ein Mann aus dem Publikum, dass er 1990 in der Nähe der Mainzer Straße gelebt hatte und auch dort zur Schule gegangen war. Für ihn sei es der Ort gewesen, an dem er zum ersten Mal Kontakt mit Antifagruppen bekommen habe – und davon könne er noch heute positiv erzählen.
Auch der Historiker am Leibniz-Institut, Jakob Mühle berichtete, wie er in seiner Jugend im Prenzlauer Berg unter anderem durch die Hausbesetzungen geprägt wurde. Heute forscht auch er zu den Spuren der Besetzerbewegung.
Der Ex-Besetzer Andreas Winter berichtete auf der Veranstaltung, dass die von ihm organisierten Kiezspaziergänge zur Geschichte der Hausbesetzungen immer gut besucht sind.
Warum heute noch Häuser besetzen?
Bei dieser Rückschau kam die Fragestellung zu kurz, ob heute Hausbesetzungen nur noch ein Gegenstand von Forschung sind – oder angesichts der Lage auf dem Wohnungsmarkt hochbrisant und aktuell.
Andrej Holm verwies auf die aktuell Kampagne „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ und betonte, es gehe dort wie damals bei den Hausbesetzungen darum, Wohnraum der Profitmaximierung zu entziehen. Dieses Ziel haben auch verschiedene Genossenschaftsmodelle, wie Katrin Girgensohn betonte.
So gesehen sind auch heute Hausbesetzungen längst nicht nur ein Thema für die Museen. Aus dem Publikum heraus wurde darauf verwiesen, dass die Mieterbewegung in Berlin in den letzten Jahren immer wieder zum Mittel der Besetzung gegriffen habe.
Allerdings gab es auch eine Broschüre, in der einige Aktivisten der jüngeren Generation begründeten, warum sie die Kampagne beenden. Ein Grund liegt in der Erfolglosigkeit und auch darin, dass es keine Massenbewegung geworden ist.
In der Broschüre ist aber auch die große Distanz zu der in Berlin starken Mieterbewegung deutlich erkennbar. So lässt sich sagen, dass die jüngsten Besetzungen zu stark am Mythos der vergangenen Jahrzehnten gezehrt haben.
Da wird mit der Kampagne „Wir zahlen nicht“ ein anderer Weg eingeschlagen. Die Beteiligten rufen dazu auf, dass möglichst viele Mieterinnen und Mieter im Zuge von Krise und Inflation die Mietnebenkosten nicht mehr zahlen. Ihnen ist die Gefahr von Repressionen bewusst, daher stellen sie sich selbst mit der angestrebten Zahl von einer Million Unterstützerinnen und Unterstützern eine hohe Hürde.
Die durch Hausbesetzungen aufgeworfene Frage, ob Wohnraum eine Ware sein muss, ist ohne Zweifel auch weiterhin aktuell. (Peter Nowak)