Auf die Polizei verzichten wollen die meisten Anwohner am Kottbusser Tor nicht. Aber muss sie buchstäblich von oben auf sie blicken?

Streit um Polizeiwache an Berliner Brennpunkt

"Die Wache im NKZ über den Köpfen der Menschen wäre ein Symbol für den überwachenden Law-and-Order-Staat. Die Brücke am NKZ ist selber ein städtebauliches Symbol. Es steht heute für bezahlbares, kommunales Wohnen und ein lebendig geprägtes, nachbarschaftliches, migrantisches Milieu, in dem sich viele – ob Gewerbetreibende, Kulturschaffende, Hausverwaltung oder Sozialarbeitende – engagieren", so der Filmemacher Matthias Coers, der Mitglied des Mieterrats des NKZ ist.

Im Vorfeld des 1. Mai wird in den Berliner Boulevardmedien immer viel spekuliert, ob die obligatorischen Feste und Demonstrationen an diesen Tag unfriedlich verlaufen könnten. In diesem Jahr will die BZ sogar in geheime Polizeiakten Einsicht genommen haben, was erst mal nur zeigt, wie eng das Verhältnis zwischen …

… konservativen Medien und Teilen der Berliner Polizei ist. Dort werden die üblichen Warnungen vor Auseinandersetzungen auf den Straßen von Neukölln und Kreuzberg beschworen. Dabei gleichen sich die Muster der Auseinandersetzung meistens.

Antisemitismus am 1. Mai in Berlin?

Neu ist in diesem Jahr ist, dass neben der Warnung vor Krawall auch ein politisches Problem angesprochen wird: die Gefahr antisemitischer Parolen während der Demonstration. Die Kritik und auch die Selbstkritik bezüglich antisemitischen Klischees auch in linken Zusammenhängen und vor allem in linker Propaganda ist wichtig und notwendig – sie kann dazu beitragen, dass sich linke Theorie und Praxis selbst hinterfragt und emanzipatorisch weiterentwickelt.

Doch das ist natürlich bei den Warnungen im Vorfeld des 1. Mai nicht beabsichtigt. Hier sollen Gründe für polizeiliches Eingreifen oder gar für Verbote geschaffen werden. Das kritisiert unter anderem Dervis Hizarci von der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus in der Tageszeitung Neues Deutschland.

Seit dem vergangenen Jahr haben sich migrantische Gruppen verstärkt in die Vorbereitung der linken Maidemonstration eingebracht. Es ist auffällig, dass gerade jetzt die Warnung vor Antisemitismus am 1. Mai besonders laut wird. Damit wird erneut suggeriert, der Antisemitismus sei in erster Linie ein Problem von Migranten.

Dabei ist er Problem aller in Deutschland lebenden Menschen – und natürlich ist es eine besondere Aufgabe aller Linken in Deutschland, egal welchen Pass oder Herkunftsstatus sie haben, antisemitische Erklärungsansätze zu erkennen und zu bekämpfen. Drohungen mit staatlicher Repression sind da eher kontraproduktiv.

Das Auge der Macht über den Bewohnern

Ein weiterer Brennpunkt für die 1.-Mai-Astrologen aus dem Berliner Boulevard ist in diesem Jahr die geplante Polizeiwache im Neuen Kreuzberger Zentrum (NKZ) am „Kotti“, wie der zentrale Platz am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg genannt wird. Rund um das Symbol eines sozialen Wohnungsbaus tobt das reale Kreuzberger Leben, das natürlich allen Freunden deutscher Reinheitsgebote verhasst ist.

Dort kann man Menschen aller Länder Welt sehen, alle Sprachen hören, dort werden auch Waren verkauft, die sonst höchstens im Darknet angeboten werden. Natürlich ist der Kotti keineswegs eine Idylle, sondern ein Ort, wo die Unterdrückungs- und Gewaltverhältnisse der spätkapitalistischen Gesellschaft besonders sichtbar werden. Davon sind auch Anwohner und Gewerbetreibende betroffen. Schon älter ist die Diskussion, wie man damit umgehen soll. Schon länger wird diskutiert, ob eine Polizeiwache am Kotti sinnvoll ist.

Nicht für alle Menschen Freund und Helfer

Nun hat sich die erst kürzlich ins Amt berufene sozialdemokratische Innensenatorin Iris Spranger in den Kopf gesetzt, die Polizeiwache auf die Galerie des NKZ zu platzieren. Dagegen hat sich sofort Widerstand linker Gruppen formiert, die daran erinnern, dass es Menschen gibt, die Orte meiden, an denen die Polizei sichtbar vertreten ist. Diese Ablehnung der Polizei muss aber nicht bedeuten, dass sie ungesetzlich handeln.

Sie kann auch einfach aus Erfahrungen herrühren, die Menschen mit migrantischen Hintergrund, aber auch einkommensarme Personen mit der Polizei machen, die für sie eben oft kein Freund und Helfer ist. Darauf weist die Initiative „Kotti für Alle“ hin, die soziale Lösungen für soziale Probleme fordert.

Eine Dauerpräsenz der Polizei kann den sozialen Problemen am Kotti nicht begegnen. Polizei hat den Zweck, das Elend zu sanktionieren – schlimmstenfalls werden die Probleme dabei lediglich in die Seitenstraßen verdrängt. Sie geht den Dingen aber nicht an die Wurzel: Soziale Probleme brauchen soziale Lösungen.

Bündnis Kotti für Alle

Zu den konkreten Forderungen der linken Initiative gehören der Ausbau der sozialen Infrastruktur, leicht zugängliche und diskriminierungsfreie Gesundheits-, Substitutions- und Suchthilfsangebote, sichere Konsumräume, zusätzliche Notübernachtungsplätze und langfristige Lösungen für Wohnungslose, mehr öffentliche Toiletten und ein nachbarschaftlicher Begegnungsort statt einer Polizeiwache.

Mit diesen Forderungen orientiert sich „Kotti für Alle“ an der Forderung „Defund the Police“, die vom linken Flügel der Black Lives Matter Bewegung kam. Damit ist keine simple Abschaffung der Polizei gemeint, sondern die Umorientierung der Gelder vom repressiven zum sozialen Staatsapparat, also praktisch von der Polizei in die Institutionen der Sozialarbeit.

Diese Forderung ist in den USA auch in der rassismuskritischen Bewegung durchaus umstritten. Denn auch der Bewohner von migrantischen Vierteln fordern Sicherheit und sehen oft dabei keine Alternative zur Polizei.

Polizeiwache ja – aber nicht über den Köpfen der Menschen

Auch in Kreuzberg haben die linken Polizeikritiker das Problem, dass die geforderte Beteiligung der Bewohner von Kreuzberg eben nicht bedeutet, dass die Polizeiwache generell abgelehnt wird. Dazu gehört der im NKZ wohnende Regisseur des vielfach ausgezeichneten Films Mietrebellen, Matthias Coers, der auch im Mieterrat des NKZ aktiv ist.

„Persönlich kritisiere ich die strukturellen Probleme bei der Polizei und vertrete die Meinung: Je weniger Polizei, desto besser. Als Mieterrat aber vertrete ich die Interessen der Mieterinnen und Mieter und der Gewerbetreibenden“, betont Coers gegenüber Telepolis. „Die überwiegende Anzahl wie auch die Gewerbemieter::innen wünscht sich seit langem eine erreichbare Polizeiwache am Kottbusser Tor mit Kontaktbereichsbeamten, die sich auch um die Belange der Mieter kümmern – die viel aushalten müssen.“

Coers verteidigt den Kotti als lebendigen, widersprüchlichen Ort für unterschiedlichste Nutzergruppen. Dazu gehören für Coers Touristen, Wohnungslose und Anwohner sowie eben auch Drogenkonsumierende und Dienstleistungsnutzer. Coers verweist auf das große nachbarschaftliche, zivilgesellschaftliche und institutionelle Engagement und ist überzeugt, dass eine moderne Polizei unter bestimmten Voraussetzungen einen Beitrag für gutes Zusammenleben leisten könnte.

Wichtig ist für Coers und dem Mieterrat daher der Ort der Polizeiwache: „Die Polizei ist mit Gewaltmonopol und Hoheitsrechten ausgestattet und sollte deshalb nicht von oben herab auf die Menschen schauen“, ist sich Coers mit vielen Anwohnern einig. Das wäre für sie das Gegenteil von Bürgernähe. Für sie geht es um die Interessen der Platznutzer und nicht um Erfolge und Profilierungsversuche einer Berliner Innensenatorin.

„Die Wache im NKZ über den Köpfen der Menschen wäre ein Symbol für den überwachenden Law-and-Order-Staat. Die Brücke am NKZ ist selber ein städtebauliches Symbol. Es steht heute für bezahlbares, kommunales Wohnen und ein lebendig geprägtes, nachbarschaftliches, migrantisches Milieu, in dem sich viele – ob Gewerbetreibende, Kulturschaffende, Hausverwaltung oder Sozialarbeitende – engagieren“, so Coers.

Für ihn und viele der Anwohner gehört die Polizei auf den Boden der Tatsachen, da wo auch die Menschen gleichberechtigt leben“, betont Coers. Das bedeutet: eine Polizeiwache im Erdgeschoss eines Gebäudes.

Nachbarschaft ist das Gegenteil von Kontrolle

In einem längeren Text für die Zeitung der Berliner Mietergemeinschaft, das Mieterecho, hat Coers unter dem programmatischen Titel „Nachbarschaft ist das Gegenteil von Kontrolle“ seine Überlegungen weiter ausgeführt.

Hier wird auch deutlich, dass die Frage „Für oder gegen eine Polizeiwache am Kotti“ zu einfach ist. So kann Coers die Polizeikritiker von „Kotti für Alle“ gut verstehen.

„Durch staatliche Prävention und Gewalt wird selbstverständlich mehr verdrängt als gelöst. Aber die Probleme der Menschen vor Ort sind konkret. Solange Betäubungsmittel nicht legal zu erwerben sind, wird es auch Drogenhandel und Drogenerkrankungen in massivem Umfang geben.“ Schließlich verweist Coers darauf, dass die Unterscheidung in repressive und soziale Staatsapparate so einfach oft nicht ist.

„Soziale Träger sind wie auch Polizei einerseits Aufstandsbekämpfung und oft eine Bedrohung für Emanzipation, aber sie machen auch eine wichtige gesellschaftliche Arbeit, um vielen Betroffenen zu helfen. Die zum Teil heftigen Nutzungskonflikte vor Ort können nicht alleine auf dem Rücken der Mieter ausgetragen werden“, gibt Coers zu bedenken. Der Mieterrat fordert seit langem Hygienekonzepte. Im Gespräch entwirft Coers die Utopie einer Polizei ohne Schusswaffen, Racial Profiling, Stigmatisierung und Diskriminierung.

„Die Polizei kann dann kommen, wenn endlich die seit einem Jahrzehnt geforderten Toiletten, Hygieneräume und Notschlafplätze realisiert werden. Die Polizei kann dann in ihrem Büro sitzen und etwaige Sorgen der Stadtplatz-Nutzer entgegennehmen – und es kann überlegt werden, wie man diese unaufgeregt und würdig lösen kann“.

Allerdings wird sich wohl schon am 1. Mai wieder zeigen, dass dies Utopie einer Polizei als Freund und Helfer für alle Bewohner am Kotti tatsächlich Utopie wird. Der Streit um die Kotti-Wache wird nach dem 1. Mai noch an Schärfe zunehmen. Dazu sorgt Innensenatorin Spranger, die wenige Tage zuvor in einem taz-Interview auch beim Ort der Wache Kompromisse ausschließt:

Als mietenpolitische Sprecherin habe ich mir den Kotti sehr genau angeschaut und mit den Wohnungsbaugesellschaften die Situation vor Ort diskutiert. Ich kenne mich da also bestens aus. Und als Innensenatorin werde ich die Polizeiwache dort jetzt einrichten. Der Standort steht. Die Wache kommt.

Iris Spranger

Auf die Frage, warum nicht zumindest beim Ort ein Kompromiss möglich ist, entgegnet die Berliner Innensenatorin: „Es gibt keine Möglichkeit, die Wache irgendwo anders einzurichten. Weder unten im U-Bahnhof noch in anderen Gewerberäumen. Es sind nämlich keine passenden frei – wir brauchen 200 bis 300 Quadratmeter – und für mich ist ausgeschlossen, einen Mieter zu verdrängen.“

Mit einem solchen Statement wenige Tage vor dem 1. Mai liefert Spranger für die Polizeikritiker viele Argumente und ignoriert die Argumente des Mieterrats, aber auch deren Angebote für einen Ersatzort. Damit werden die Anwohner, die keine Polizei über ihren Köpfen, sondern wenn überhaupt auf dem Boden der Tatsachen am Kotti haben wollen, vor den Kopf gestoßen. (Peter Nowak)

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