Meike Gerber, Emanuel Kapfinger, Julian Volz (Hg.): Für Hans-Jürgen Krahl. Beiträge zu seinem antiautoritären Marxismus. Mandelbaum, 272 S., br., 18 €.

Theorie der Praxis

Die Werke von Hans-Jürgen Krahl sind weitgehend vergessen. Dabei gibt es viele Gründe, den antiautoritären Marxismus des früh verstorbenen SDS-Sprechers wiederzuentdecken, wie ein neuer Sammelband zeigt

SDS-Sprecher Krahl bei Unfall getötet«, lautete eine Pressemeldung am 14. Februar 1970. Am Vortag war das Fahrzeug, in dem der 27-jährige Hans-Jürgen Krahl am Beifahrersitz saß, auf einer eisglatten nordhessischen Bundesstraße gegen einen Lastwagen geprallt. Krahl war sofort tot, der Fahrer starb wenig später im Krankenhaus. Drei weitere Wageninsassen überlebten schwer verletzt. Sie waren auf der Rückfahrt von einen Politiktreffen, Diskussionen über Strategie und Taktik revolutionärer Politik sowie das Verfassen von philosophischen und politikökonomischen Texten gehörten in den letzten Jahren von Krahls Leben zu seinen zentralen Beschäftigungen. Er hatte keinen festen Wohnsitz, übernachtete bei Freund*innen und Bekannten, war ständig unterwegs zu Veranstaltungen und Diskussionen. Wenige Wochen nach dem Unfalltod suchte sein Freund Oskar Negt über eine Anzeige nach verstreuten Manuskripten und Tonbändern mit Aufnahmen von Reden Krahls. Daraus entstand der 1971 veröffentlichte Sammelband …

… »Konstitution und Klassenkampf« mit Schriften, Reden und Entwürfen aus den Jahren 1966 bis 1970. Danach geriet der politische Theoretiker Krahl weitgehend in Vergessenheit. Dem wollen die Herausgeber*innen des soeben im Mandelbaum-Verlag erschienenen Sammelbands mit dem programmatischen Titel »Für Hans-Jürgen Krahl« entgegenwirken.
In der Einleitung rekapitulieren die Herausgeber*innen das kurze Leben von Krahl, der seine politische Arbeit beim völkischen Ludendorff-Bund begann. Als er ihn 1961 verließ und die Junge Union im niedersächsischen Alfeld mitbegründete, sei das schon ein »enormer Schritt zur Aufklärung« gewesen, wie Krahl in einer Prozesserklärung darlegte. Sein Studium begann er in Göttingen. Dort trat er zunächst in eine Burschenschaft ein, aus der er ausgeschlossen wurde, weil er moderne Vorstellungen durchsetzen wollte. 1964 trat er in den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) ein, was die Herausgeber*innen als Zäsur betrachten. »Krahl entschloss sich also seine Klasse zu verlassen und ging ein Jahr später für ein weiteres Jahr nach Frankfurt. Dort begann er seine Dissertation bei Theodor W. Adorno, der ihn entscheidend prägen sollte«, schreiben sie.
Mehrere der 15 Aufsätze in dem Buch drehen sich um die politischen Implikationen von Krahls Bruch mit seinem berühmten Doktorvater. »Kurz vor der Praxis wieder in die Theorie« ist der Beitrag von Meike Gerber über das Spannungsverhältnis von Kritischer Theorie und Praxis überschrieben. Gerber stellt ihrem Beitrag ein Erlebnis Krahls voran: »Als wir (…) das Konzil der Frankfurter Universität belagerten, kam als einziger Professor Herr Adorno zu den Studenten zum Sit-in. Er wurde mit Ovationen überschüttet, lief schnurstracks auf das Mikrofon zu und bog kurz vor dem Mikrofon ins Philosophische Seminar ab, also kurz vor der Praxis wieder in die Theorie«. Das Verhältnis von Theorie und Praxis kann als roter Faden zwischen den unterschiedlichen Aufsätzen im Buch verstanden werden. Während Adorno revolutionäre Praxis für unmöglich hielt, stellte sich mit Herbert Marcuse ein wichtiger Exponent der Kritischen Theorie auf die Seite der Protestbewegung. Auch die Marcuse-Schülerin Angela Davis wird in dem Buch als eine Vertreterin des antiautoritären Marxismus vorgestellt, deren theoretische Arbeiten in den USA lange Zeit ebenso ignoriert worden seien wie die Texte von Krahl in Deutschland, so Gerber.
Dass Krahl vergessen wurde, lag auch daran, dass der SDS im Niedergang war, als er starb. Am Rande seiner Beerdigung wurden gar die Modalitäten für die offizielle Auflösung der Organisation besprochen. Die sich abzeichnende Fraktionierung in diverse Kommunistische Kleinstparteien, die die KPD der 1920er Jahre wieder aufleben lassen wollten, hatte Krahl theoretisch bekämpft. Andreas George und Samuel Denner analysieren in ihrem Beitrag, inwiefern sich Krahl mit der veränderten Rolle der Intelligenz in der Gesellschaft beschäftigte und eine neue Klassentheorie ausarbeiten wollte. Ein zentrales Thema seiner nachgelassenen, überwiegend fragmentarischen Schriften war die Organisationsfrage, mit der sich im Sammelband Robin Mohan beschäftigt. Er stellt dabei auch die Frage, warum wir uns noch heute mit den – nicht immer leicht verständlichen – Texten Krahls beschäftigten sollen. Eine Antwort lautet: Weil wir, mehr als 50 Jahre nach Krahls Tod, dringlicher denn je eine politische Organisation auf der Höhe der Zeit brauchen.
In der außerparlamentarischen Linken in Italien und Frankreich wird Kahl schon länger rezipiert, wie in zwei Aufsätzen am Schluss des Buches nachgezeichnet wird. Auch die gesellschaftliche Linke in Deutschland könnte in Krahls Überlegungen Anregungen finden. Das einzige Manko des Buches ist, dass es nicht mehr von den eigenen Texten des antiautoritären Marxisten dokumentiert. Peter Nowak

Erstveröffentlichungsort: