„Die polnischen Rechtsvorschriften über die Disziplinarordnung für Richter verstoßen gegen das Unionsrecht“ – So lautet der Schlüsselsatz eines Urteils, mit dem der Europäische Gerichtshofs (EuGH) am vergangenen Donnerstag wesentliche Teile der von der polnischen Regierung vorangetriebenen Justizreform für nicht europarechtskonform erklärt. Das Urteil ist nur der neueste Höhepunkt einer jahrelangen …
… Auseinandersetzung zwischen den Apparaten der EU und der polnischen Regierung. Schließlich gehört die Justizreform zu den Renommierprojekten der rechtskonservativen Regierung, mit der sie sich vor ihrem nationalistischen und klerikalen Milieu als Wahrerin des „christlichen Polens“ gegen eine EU aufspielen kann, in der Sodom und Gomorrha herrsche.
Mit dieser biblischen Metapher für angeblich wegen des nicht gottgefälligen Lebens ihrer Bewohner untergegangenen Städte hatten schon rechte Demonstranten vor 15 Jahren gegen Teilnehmer einer Homosexuellen-Parade agiert. Damals war Lech Kaczyński, der Bruder des heutigen starken Mannes der polnischen Nationalkonservativen, Jaroslaw Kaczyński, Bürgermeister von Warschau und verbot die Schwulenparade. Ein rechter Mob griff immer wieder Menschen an, die für sexuelle Minderheiten gehalten wurden.
EU: Letzte Rettung vor klerikaler Ordnungszelle?
Viele von ihnen sehen in der EU eine Art letzte Rettung gegen den Aufbau eines klerikalen Ordnungsstaats, wie ihn die Rechtskonservativen in Polen und Ungarn aufbauen. Sie hoffen daher auch, dass die EU nach dem jüngsten Urteil die Zügel gegen die polnische Regierung anzieht und Sanktionen beschließt.
Angesichts der vor allem in den ländlichen Regionen Polens konservativen bis rechtspopulistischen Hegemonie, wie sie durch die Ausrufung von LGB-freien Zonen bekräftigt wird, ist es verständlich, dass die Betroffenen in der EU und ihrer Justiz eine Hoffnung sehen. Doch sie könnte trügerisch sein. Der Preis ist die politische Entwaffnung von politischen Kräften, die tatsächlich eine emanzipatorische Gesellschaft wollen.
Wenn alles auf die Frage, PiS oder EU zugeschnitten wird, haben sie schon verloren. Selbst vorsichtige sozialdemokratische Organisierungsversuche, wie sie die Partei Razem versucht, haben dann keine Chance.
Mittlerweile bringt sich der konservative Konkurrent der PiS, Donald Tusk, für die nächsten polnischen Präsidentenwahlen in Stellung. Er unterscheidet sich von der PiS vor allem durch seine guten Beziehungen zur „Deutsch-EU“ und seinem strikt wirtschaftsfreundlichen Kurs.
Als Fürsprecher für die Rechte von sexuellen Minderheiten ist er ebenso wenig bekannt wie für ein Bekenntnis zum Recht auf Abtreibung. Das macht es umso dringlicher, dass sich die Betroffenen nicht auf die EU, sondern auf progressive Bewegungen auch in europäischen Ländern zu stützen.
So bemüht sich die Initiative Postkom seit Jahren darum, verschiedene soziale Bewegungen in Osteuropa überhaupt erst einmal bekannt zu machen und ist damit durchaus nicht erfolglos. So mobilisierte Postkom im Herbst 2019 gegen die drohende Räumung des Sozialen Zentrums Rozbrat in Poznan.
Und der Nutzen?
Bei einer Zuspitzung der polnischen Innenpolitik auf die Alternative PiS oder die EU können solche selbstorganisierte Initiativen nur verlieren. Es sind schließlich die polnischen Rechten, die ein solches Szenario immer wieder mit Erfolg provozieren. Es ist schon jetzt klar, dass die polnische Regierung sich nicht einfach dem Urteil des EuGH unterwerfen wird.
Vielmehr wird für die nächsten Tagen ein Urteil des polnischen Gerichtshofs erwartet, in dem entschieden wird, ob in Polen europäisches oder nationales Recht Vorrang hat, ob also in letzter Instanz der polnische oder der europäische Gerichtshof zuständig ist. Nun gehört diese polnische Instanz nach Vorstellung des EuGH zu den Teilen der polnischen Justiz, die als nicht EU-konform betrachtet werden.
Es wird damit gerechnet, dass dieses Gericht dem EuGH nun die Kompetenzen abspricht, über polnisches Recht entscheiden zu können. Die Entscheidung des EuGH wurde vor allen in Deutschland vor einen großen Teil der Medien begrüßt. In Kommentaren wurde die Hoffnung erhoben, dass nun vonseiten der EU gegen die polnische Regierung Sanktionen verhängt werden.
Selbst vom Polexit ist schon die Rede, also der Vorstellung, dass Polen die EU verlässt. Es ist aber ein Unterschied, ob in Polen Menschen, die sich gegen eine katholische Ordnungszelle wehren, auf EU-Sanktionen hoffen, oder ob diese Forderungen von Medien und Politikern der „Deutsch-EU“ erhoben wird. Die versucht mit der Polexit-Drohung den Druck auf die polnische Regierung zu erhöhen.
Mit der Drohung gegen Polen, notfalls aus der EU gedrängt zu werden bzw. zumindest wesentliche Rechte zu verlieren, also EU-Mitglied zweiter Klasse zu werden, soll die Unterordnung unter die „Deutsch-EU“ gewährleistet werden. Da werden Erinnerung an Griechenland zu Beginn der Syriza-Regierung wach, als Schäuble und Co. drohten Griechenland, aus der EU zu drängen, wenn es sich nicht dem Austeritätspolitik der Troika unterwirft.
Allein die Drohkulisse mit einem Rauswurf aus der EU bewirkte, dass sich die linkssozialdemokratische Syriza-Regierung dem Diktat unterwarf, obwohl sie bei den Wahlen das Gegenteil versprochen hat und sich die Regierung mit einem Referendum bestätigen ließ, dass die Bevölkerung dieses Diktat ablehnt.
Natürlich bestehen Unterschiede zwischen den Daumenschrauben, die im Fall von Griechenland einer linkssozialdemokratischen Regierung angelegt wurden und dem Druck, der auf die polnische Rechtsregierung ausgeübt wird. Doch geht es in beiden Fällen darum, dass ein Teil der EU mit Unterstützung von Deutschlands in der gesamten EU durchregieren will und sich Instrumente dafür schafft.
Moralisierende Berichterstattung über die europäischen Werte
Dabei spielen die Gerichte eine immer wichtigere Rolle. Es hat sich nämlich gezeigt, dass in Polen und auch in Ungarn die rechtskonservativen Regierungen bei bürgerlichen Wahlen Mehrheiten erringen können. Die Einmischung der EU könnte sie noch stärken.
Mit einer EU-konformen Justiz will man sich einen Apparat schaffen, mit dem man die Macht dieser EU-kritischen Regierungen stark einschränken will. Das kann dann auch wieder linke Regierungen treffen wie in Griechenland unter Syriza. So soll die Botschaft an die Bevölkerung gehen, es ist egal, wen ihr wählt. Die Justiz sorgt schon dafür, dass alles im Bereich der vielzitierten europäischen Werte bleibt. Wenn es nach der weitgehend moralisierenden Berichterstattung vor allem in Deutschland geht, sind diese europäischen Werte, dass Synonym für Weltoffenheit, Transparenz und damit positiv besetzt.
Wenn man sich von der moralisierenden Sichtweise verabschiedet, muss man konstatieren, dass die Diskussion um die europäischen Werte vor allem dazu dient, die Hegemonie der „Deutsch-EU“ durchzusetzen. Minderheitenrechte sind da eher dazu da, auch Linksliberale mit ins Boot zu holen. Es gehört schon viel historische Amnesie dazu, um Minderheitenrechte pauschal zum Markenkern der EU zu erklären.
Schließlich waren die gesellschaftspolitischen Vorstellungen der CDU/CSU zu den Rechten von sexuellen Minderheiten bis in die jüngste Vergangenheit durchaus kompatibel mit den Positionen, wie sie heute die Rechtskonservativen in Ungarn und Polen vertreten. Zudem tangiert es die so viel gerühmten europäischen Werte durchaus nicht, wenn immer mehr EU-Regierungen wie beispielsweise aktuell Dänemark die Abschreckungspolitik gegenüber Migranten weiter vorantreiben.
Auch in Deutschland Streit über EU-Recht
Bei dem Streit zwischen Polen und der EU geht es um Hegemoniefragen innerhalb der EU und unterschiedliche Interessen. Die Diskussion über die europäischen Werte sollen derweil die Linksliberalen führen.
Das wird besonders dann deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Frage, ob europäisches oder nationales Recht Vorrang hat, nicht nur in Polen ein großes Thema ist. Auch das deutsche Bundesverfassungsgericht hat sich wiederholt über EU-Recht hinweggesetzt und hat damit auch Konflikte mit den EU-Apparaten mit den EU-Apparaten nicht gescheut.
Deswegen hat die EU-Kommission erst vor wenigen Wochen gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Hier wird deutlich, dass es um Hegemoniefragen und um unterschiedliche Interessen geht. Es wäre schon positiv, wenn auch beim Streit um die Justiz in Polen weniger über Werte und mehr über Interessen geredet würde. Peter Nowak
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