Bei der Kampagne gegen das ungarische Gesetz, das Werbung für Schwule und Transsexuelle einschränkt, geht es längst um mehr als Rechte für sexuelle Minderheiten

Pink-Washing als Standortfaktor der EU

Wenn jetzt die Instanzen der von deutschen Interessen geleiteten EU sich so darüber aufregen, dass Jugendliche in Ungarn jetzt nicht ausreichend und umfassend über die Rechte verschiedener sexueller Minderheiten informiert werden, könnte eine transnationale Linke gemeinsam mit den Gewerkschaften doch mal Texte verbreiten, in denen sie über ihre Rechte als junge Lohnabhängige informiert werden.

Es ist noch nicht so lange her, da galten Fußballevents als Hotspot für Nationalismus. In Deutschland konnte man das an der Anzahl der entsprechenden schwarz-rot-goldenen Fähnchen und anderer Utensilien in Nationalfarben sehen. Doch das hat sich seit einigen Jahren geändert. Liberale und Linke haben spätestens seit der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland Frieden mit dem angeblichen ironischen Bekenntnis zu Deutschland gemacht. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass das Spiel „Deutschland gegen Ungarn“ ein Schlagabtausch zwischen einer …

…. angeblich so toleranten, diversen „Deutsch-EU“ und dem rückständigen Rest, mit Orbáns Ungarn als abschreckendes Beispiel, wurde. Viele Rechte vermissen hingegen bei der Nationalmannschaft deutsches Blut und deutsche Gesinnung und suchen nach Ersatz. Ihnen spricht der Chefredakteur der rechten Wochenzeitung Junge Freiheit, Dieter Stein, aus dem Herzen, der beim Spiel Deutschland gegen Ungarn vor wenigen Tagen zur Solidarität mit Ungarn aufgerufen hatte und dabei nicht vergessen hat zu erwähnen, was Deutschland angeblich Ungarn zu verdanken hat.

Dabei nennt er den Aufstand gegen den Stalinismus 1956, an dem tatsächlich Faschisten wie verschiedene linke Gruppen beteiligt waren, heute würden wir von „Querfront“ sprechen. Die von der rechten Paneuropa-Union inszenierte Grenzöffnung 1989, die als Anfang vom Ende des nominalsozialistischen Blocks interpretiert wird, zähl Stein auch auf. Da fehlt nur noch der Hinweis, dass das Ungarn unter Orbán als Grenzwächter der EU seit 2015 eine wichtige Rolle spielt.

Bei aller Kritik an ungarischen Gesetzen sind sich die meisten Politiker der EU-Staaten mit Orbán einig, dass Migranten möglichst draußen bleiben sollen.

Ein Gesetz, das auch CDU-Politikern und der Bild-Zeitung gefallen könnte

Beim aktuellen Anlass für die Aufwallungen ging es um ein reaktionäres Gesetz, das auch Gefallen bei Unionspolitikern finden könnte. Da wird schon mal Pädophilie und Homosexualität vermischt. Zentraler Kern der Kritik sind die Gesetzesteile, die Jugendliche vermeintlich gegen Werbung und Propaganda von Homosexuellen schützen soll.

Es ist völlig berechtigt, die Kämpfe für die Rechte der sexuellen Minderheiten zu unterstützen. Damit steht man in der Tradition auch der progressiven Elemente der Arbeiterbewegung. So ist wenig bekannt, dass sich die frühe SPD unter August Bebel auch für die Entkriminalisierung von Homosexuellen einsetzte und die frühen Bolschewiki ebenfalls die Rechte sexueller Minderheiten in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution stärkten, bis diese Reformen im Stalinismus wieder zurückgedreht wurden.

Als Bild gegen Sex-Ideologen an deutschen Schulen mobilisierte

Doch heuchlerisch erscheint es, wenn auch die Bild-Zeitung sich plötzlich dem Zug gegen Orbán anschließt. Da soll wohl vergessen gemacht werden, dass sich die Zeitung noch 2015 massiv an der Kampagne gegen eine angebliche Frühsexualisierung von Kindern in Deutschland beteiligte. „Keine Sexideologen an Schulen“ lautete die Überschrift über den Kommentar, der sich gegen die Einführung moderner Lehrpläne an deutschen Schulen richtete.

„Zu Recht gehen Eltern gegen diese Frühsexualisierung auf die Straße und protestieren an Schulen gegen Schulbücher, die eine schräge Sex-Ideologie verbreiten“, schrieb der Bild-Kommentator am 25. Juli 2015, also vor fast genau 6 Jahren. Er konnte sich auf damals führende CDU-Politiker aus Baden-Württemberg wie Guido Wolf berufen und das Lamento „In den Schulen wird zu viel Sex gelehrt“.

Damit stellte sich die Zeitung wie auch viele Unionspolitiker an die Seite einer rechtsoffenen Bewegung, die gegen eine vermeintliche Frühsexualisierung von Kindern auf die Straße in Deutschland auf die Straße gegangen ist. Viele der damaligen Demonstranten dürften heute das ungarische Gesetz begrüßen.

Das ist auf jeden Fall glaubwürdiger als der Kurs der Bild, da das Medium vor sechs Jahren für genau das mobilisierte, was heute in Ungarn Gesetz ist. Und es ist auch glaubwürdiger als eine CDU-Politikerin von der Leyen und viele andere konservative Politiker verschiedener EU-Staaten, die von einer „Schande für Europa“ schwadronieren, obwohl sie und ihre Parteimitglieder über Jahre nichts anderes gefordert haben und auch noch fordern.

Während sich offenbar alle über die ungarische „Schande von Europa“ aufregen, wird kaum erwähnt, dass der Vatikan kürzlich Einspruch gegen ein Anti-Homophobie-Gesetz eingelegt hat, weil es nach Ansicht der konservativen Kleriker ihre Meinungsfreiheit einschränken könnte.

Die Kleriker begründen ihre Ansicht damit, dass der nach dem Initiator Alessandro Zan (Partito Democratico) benannte Entwurf weit mehr als nur Sanktionen gegen homophobe Beleidigungen oder Gewalt vorsehe. So sei unter anderem die verbindliche Verankerung eines nationalen Aktionstags „gegen Homophobie, Lesbophobie, Biphobie und Transphobie“ vorgesehen, woran sich nicht zuletzt Italiens Schulen beteiligen sollen, wie die Katholische Nachrichten Agenturberichtet.

Neujustierung des Geschlechterdiskurses

Nun ist es schon frappierend, dass diese Intervention aus dem Vatikan kaum erwähnt wird, während sich scheinbar ganz Europa über ein ungarisches Gesetz aufregt, von dessen Existenz bis vor wenigen Tagen kaum jemand wusste und das auch heute nur ein Bruchteil der Dauerempörten gelesen haben dürfte.

Wenn dann scheinbar vom Boulevard über von der Leyen bis zu linken Nichtregierungsorganisationen alle ihre Regenbogen-Fahnen wehen lassen, könnte man sich fragen, ob es hier weniger um Schutz von Minderheiten und mehr um die Neujustierung des Diskurses über Geschlecht und Geschlechtsregime geht, dessen Ursache in den Veränderungen im kapitalistischen Akkumulationsregime liegen.

Die im fordistischen Kapitalismus dominanten Männlichkeitsbilder waren sehr stark durch die dort vorherrschenden Anforderungen der Schwerindustrie geprägt. Die Bilder vom starken Arbeitermann fanden so auch Eingang in Bilder und Texte der Arbeiterbewegung. Mit dem Niedergang der fordistischen Industrie geriet auch das fordistische Männerbild in die Krise. Doch dieser materialistische begründete Abschied vom „alten weißen Mann“ wird oft vor allem moralisch diskutiert.

Genauso ist es, wenn man über die Rechte der verschiedenen sexuellen Minderheiten spricht, der der moderne Kapitalismus zur Entfaltung bringt. Der digitale Kapitalismus verlangt andere Fähigkeiten. Vor allem die sogenannten Soft Skills werden eher Frauen, aber auch verschiedenen sexuellen Minderheiten zugeschrieben. Zudem ist das vorherrschende Dogma nicht mehr, dass eine Gesellschaft viele Kinder braucht. Im Gegenteil wird darüber diskutiert, die Geburten zu verringern.

Das ist der ökonomische Hintergrund dafür, dass reproduktive Rechte, aber auch die Rechte von verschiedenen sexuellen Minderheiten, für die die Betroffenen seit Jahrzehnten vergeblich gekämpft haben, aktuell so sehr im Zentrum der hegemonialen Debatten stehen. Längst haben große kapitalistische Konzerne, Staaten und auch Staatenbündnisse wie die EU erkannt, dass die Verteidigung dieser sexuellen Minderheiten ein Standortfaktor sein können, mit der die real weiterbestehenden Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse umso besser ausgeblendet werden können.

Betreibt die „Deutsch-EU“ im Fall Ungarns Pink-Washing?

Der Vorwurf des Pink-Washing wird auch von Interessenvertretern sexueller Minderheiten erhoben, beispielsweise gegen die Deutsche Bahn. Natürlich ist auch dieser Vorwurf interessengeleitet und muss im Einzelfall geprüft und kritisch hinterfragt werden.

So wird beispielsweise Israel von Antizionisten oft Pink-Washing unterstellt und dabei vergessen, dass sexuelle Minderheiten dort Freiheiten haben, von denen sie in vielen arabischen Gesellschaften nicht mal zu träumen wagen. Daher sollte auch im Falle der von leitenden deutschen Interessen bestimmten EU mit dem Vorwurf des Pink-Washing vorsichtig umgegangen werden. Doch Bild und Politiker aller Couleur, die sich jetzt über Ungarn aufregen, kann man durchaus Pink-Washing vorwerfen. Ihnen geht es darum, dass die „Deutsch-EU“ mit Rechten von sexuellen Minderheiten im globalen Standortwettbewerb auftrumpfen kann.

Interessenverbände von sexuellen Minderheiten geht es um sehr konkrete Freiheiten und sie sollten in Linken dabei Verbündete sehen. Diese Organisationen könnten sich der Umarmung durch die modernen kapitalistischen Staatsapparate, die jetzt ständig mit den Regenbogenflaggen wedeln, am besten entziehen, wenn sie den Kampf um sexuelle Freiheiten mit dem Kampf von Lohnabhängigen und Geflüchteten verbinden.

Für die allein wegen unerlaubten Grenzübertritt im letzten Jahr in Ungarn zu Haftstrafen verurteilten Migranten setzte sich keine EU-Kommission und keine Bild-Zeitung ein, sondern nur kleine antirassistische Gruppen. Und für die Gesetze gegen aktive Gewerkschafter und gegen Wohnungs- und Erwerbslose beneiden die politischen Eliten der „Deutsch-EU“ heimlich die Orbán-Regierung.

Die deutsche Autoindustrie und andere kapitalistische Investoren haben das Billiglohnland Ungarn längst als Industriestandort schätzen gelernt. Da mögen einige naive Liberale in der Süddeutschen Zeitung darüber sinnieren, dass die deutsche Automobilindustrie von Orbán missbraucht werde. Tatsächlich aber reagiert das Kapital, so wie es schon Karl Marx erkannte. Wenn der Profit steigt, geht es über Leichen.

Darüber sollten die ganzen Regenbogenflaggen und -poster aus den Diversitiy-Abteilungen der Konzerne nicht hinwegtäuschen.

Wenn jetzt die Instanzen der von deutschen Interessen geleiteten EU sich so darüber aufregen, dass Jugendliche in Ungarn jetzt nicht ausreichend und umfassend über die Rechte verschiedener sexueller Minderheiten informiert werden, könnte eine transnationale Linke gemeinsam mit den Gewerkschaften doch mal Texte verbreiten, in denen sie über ihre Rechte als junge Lohnabhängige informiert werden.

Dazu sollte auf Beratungsstellen verwiesen, an die sich wenden können, um sich gegen Dumpinglöhne auf der verlängerten Werkbank der EU zu wehren. So könnten diese Nichtregierungsorganisationen verhindern, dass sie zur Staffage eines Pinkwashing der EU werden. Dann könnte man sehen, wie schnell der liberale Lack bei Bild und von der Leyen bröckelt. (Peter Nowak)