Kommentar: An einem neuen Lockdown könnten wir vorbeikommen. Die Folgen der Durchsetzung des digitalen Kapitalismus in den letzten Monaten werden uns aber noch lange beschäftigen

„Es gibt Schlimmeres als das Virus“

Daher ist es umso wichtiger, noch einmal zu betonen, dass es auch in der Corona-Pandemie Akteure gibt, die sie nicht verursacht haben - das wäre irrationales Denken -, die aber davon profitieren. Dazu gehört in vorderster Linie die Digitalindustrie. Auf allen Ebenen können wir beobachten, wie die Menschen jetzt gewaltsam in die neue kapitalistische Akkumulationsphase gezwungen werden.

Die Großdemonstration der Corona-Maßnahmen-Gegner bleibt auch in der Politik nicht ohne Wirkung. So hat Gesundheitsminister Jens Spahn mit seinen jüngsten Äußerungen scheinbar denen Recht gegeben, die bereits im März ….

….. Zweifel geäußert haben, ob die drastischen Maßnahmen verhältnismäßig sind.

Die FAZ fasst Spahns Erklärungen so zusammen:

Was sich im März und April in Deutschland abspielte, wird es so nicht wieder geben. (…) Pauschale Besuchsverbote, versicherte Spahn, werde es auch im Falle stark vermehrter Corona nicht mehr geben müssen.

FAZ

„Das ist eine mutige Feststellung angesichts der Risiken, die für Pflegeheime mit der Pandemie weiterhin verbunden sind“, kommentiert Jasper von Altenbockum. Er stellt auch fest, dass sich der Blick auf die Krankheit geändert hat.

Vieles von dem, was im Frühjahr nach „Bergamo“ als geboten und opportun erschien, entpuppt sich heute als unnötig. Dass es so kommen würde, wusste man allerdings schon damals. Der Sinn des „Hammers“ war es schließlich, den Alltag erst einmal nahezu stillzulegen, um schrittweise herausfinden zu können, welcher wiederbelebte Teil dieses Alltags die Infektionen steigen lässt.

FAZ

Nicht nur Spahn, sondern auch andere Politiker und Mediziner, die noch vor einigen Wochen vor einem zweiten Corona-Lockdown gewarnt haben, änderten die Tonlage. Dazu gehört der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, der noch im Frühjahr die Masken als nutzlos bezeichnet hatte. Im jüngsten Deutschlandfunk-Interview verweist er auf wissenschaftliche Erkenntnisse, die ihn in dieser Frage seine Meinung revidieren ließen. Aber auch, was den gesellschaftlichen Umgang mit den Corona-Virus betrifft, verweist Montgomery auf Lerneffekte:

Ich bin nach wie vor der Überzeugung, dass mit dem Wissen der Zeit, mit den Bildern, die wir aus Bergamo, aus Frankreich, aus New York hatten, die Entscheidungen richtig waren. Sie sind ja auch von den Gerichten im großen Teil da, wo sie hinterfragt wurden, bestätigt worden. Und dennoch stimmt es auch, dass wir sie heute wahrscheinlich so nicht mehr machen würden, weil wir zugelernt haben.

Frank Ulrich Montgomery im Deutschlandfunk

„Wir laufen Gefahr, den Konsens in der Bevölkerung zu verlieren“

Der Ärztefunktionär kann sich perspektivisch auch einen Gaststättenbetrieb wieder vorstellen. Er lässt sich auch nicht von den in regelmäßigen Abständen veröffentlichen Umfragen manipulieren, die suggerieren, dass die große Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung unterstützt und als alternativlos bezeichnet. Schließlich ist ja bekannt, dass die konkrete Formulierung der Frage hier eine wichtige Rolle spielt.

Wir laufen Gefahr, diesen Konsens in der Bevölkerung zu verlieren, weil die Menschen sind manchmal klüger als einzelne Landespolitiker, weil die sagen sich, das Virus kennt keine Ländergrenzen und unterschiedliche Regelungen in einzelnen Bundesländern oder sogar einzelnen Gesundheitsämtern, das muss doch eigentlich bundeseinheitlich koordiniert und gleich sein. Deswegen laufen wir momentan Gefahr, durch unterschiedliche Regelungen den Rückhalt in der Bevölkerung zu verlieren.

Frank Ulrich Montgomery im Deutschlandfunk

Selbst die „Kassandra der Coronadebatte“, der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach, hält einen zweiten Lockdown für vermeidbar und sprach sich klar gegen erneute Schul- und Kitaschließungen aus.

Es ist anzunehmen, dass es mehrere Gründe für die neue Tonlage gibt. Die aktuellen Beobachtungen der Pandemie zeigen, dass es sich nicht um einen Killervirus handelt und dass der Vergleich mit einer Grippe eben nicht, wie oft unterstellt wird, verharmlosend ist. Wichtig ist dabei zu bedenken, dass die Grippe eine schwere Erkrankung ist, die zu bleibenden Schäden und zum Tod führen kann – wie auch Corona.

Und wichtig ist auch zu betonen, dass sich die Folgen der Krankheit in unterschiedlichen Teilen der Welt unterschiedlich auswirken. Dazu tragen klimatische Faktoren bei. So kann trockene Luft mehr zur Verbreitung des Virus beitragen als feuchte Luft.

Gesundheitssystem und die Folgen von Corona

Aber auch die sozialen Umstände in den unterschiedlichen Ländern sorgen dafür, dass sich die Pandemie unterschiedlich auswirkt. In Ländern mit schlechten Gesundheitssystemen sind die Todeszahlen natürlich höher als in Ländern, in denen es noch eine flächendeckende, für die Allgemeinheit zugängliche Gesundheitsversorgung gibt.

So müsste der möglichst globale Ausbau des Gesundheitssystems eine Konsequenz sein, die fortschrittliche Kräfte aus der Pandemie ziehen. Dabei sollten Ländergrenzen keine Rolle spielen. Es ist ein gesellschaftlicher Skandal, dass in einer Welt, in der durch die moderne Technik jeder Winkel erreichbar ist, Menschen im globalen Süden an Krankheiten sterben müssen, die nach dem medizinischen Standard heilbar sind.

Die Konsequenz kann nur der Aufbau einer transnationalen Gesundheitsversorgung sein, zu dem alle Menschen, unabhängig davon, wo sie leben, Zugang haben müssen. Das gilt natürlich auch für Corona-Impfungen. Es ist ja nicht nur Russland, das hier nationale Alleingänge vollführt, wie die Medizinjournalistin Ulrike Baureithel in der Publikation Freitag gut beschreibt:

Corona hat nicht nur die russische Forschung die Raketentriebwerke angeworfen. Mindestens sechs andere Teams, die im globalen Run auf den Impfstoff die Nase vorn haben – darunter Astra-Zeneca, das zusammen mit der Universität Oxford ein Serum entwickelt, und das deutsche Unternehmen Biontech in Kooperation mit Pfizer – versichern, alsbald einen marktreifen Impfstoff zu präsentieren. Im Unterschied zur russischen Kreation befinden sich deren Produkte bereits in Prüfphase III, die allerdings ebenfalls enorm abgekürzt wird. (…)

„Riskant“ ist die inzwischen Speed-Forschung genannte Hochgeschwindigkeitswissenschaft aber auch in anderen Ländern. Ausgelassene oder nicht ausreichend betriebene Tierversuche, verkürzte oder zusammengelegte Versuchsabschnitte – das gilt insbesondere für die klinischen Phasen II und III – oder die Erprobung von Impfstoffen in Ländern, in denen die Kontrolle nicht in jedem Fall gewährleistet ist, sind nur Beispiele dafür.

Ulrike Baureithel, Freitag

Gerade diese nationalen Alleingänge zeigen die Notwendigkeit, ein globales Gesundheitssystem jenseits von Landesgrenzen aufzubauen.

„Worauf reimt sich Covid? Auf jeden Fall auf Profit“

Doch das ergibt sich eben nicht wie von selbst aus der Pandemieerfahrungen. Dazu braucht es linke Gegenkräfte, die solche Projekte, die der Profitlogik zuwiderlaufen, anregen und erkämpfen.

Ein positives Beispiel sind Stadtteilinitiativen wie „Hände weg vom Wedding“, die bereits im April 2020 einen Forderungskatalog erstellen, in dem auch medizinische Fragen eine wichtige Rolle spielen.

Ein Teil der Linken hat in den vergangenen Monaten selbst die Regierung noch überholt mit ihren Forderungen nach strengen Schutzmaßnahmen gegen Corona. Das brachte den FAZ-Kommentator Markus Wehner dazu, das erste Mal in seiner langen journalistischen Tätigkeit Berliner Linksautonome zu loben, die sich in der Corona-Krise vorbildlich verhalten würden.

Doch diese Sympathien werden die Linken schnell verlieren, wenn sie auch die Profiteure der Pandemie benennen. Das zeigte sich an den Reaktionen auf ein eher belangloses Liedchen des in Skandale verliebten Linkspartei-Politikers Dieter Dehm.

Zur Melodie von „Marina, Marina“ reimt Dehm: „Corona Corona Corona, Du bist jetzt für alles der Grund, paar wenige machst du gesund. Worauf reimt sich COVID? Auf jeden Fall auf Profit. Ich lass mir da nicht drohn mit: Oh no no no no no!“

Das führte zu einem inszenierten Skandälchen. Die Linke Niedersachsen betonte, sie habe mit dem Lied nichts zu tun und Dehm musste klarstellen, dass es keinerlei Anknüpfungspunkte zu Verschwörungsideologien gibt. Trotzdem werden es sich die Kapitalkräfte nicht entgehen lassen, jeden Verweis auf die Profiteure und Gewinner der Pandemie in diese Ecke zu rücken.

Der Durchbruch der Digitalindustrie

Daher ist es umso wichtiger, noch einmal zu betonen, dass es auch in der Corona-Pandemie Akteure gibt, die sie nicht verursacht haben – das wäre irrationales Denken -, die aber davon profitieren.

Dazu gehört in vorderster Linie die Digitalindustrie. Auf allen Ebenen können wir beobachten, wie die Menschen jetzt gewaltsam in die neue kapitalistische Akkumulationsphase gezwungen werden. Nun ist aus der Geschichte bekannt, dass die Durchsetzung der unterschiedlichen kapitalistischen Akkumulationsphasen immer gewaltvoll war. So kann man durchaus sagen, dass die globale Reaktion auf Corona nicht so abgelaufen wäre, wenn es nicht die technischen Möglichkeiten gegeben hätte, die Digitalisierung global durchzusetzen.

Die politischen Möglichkeiten wurden in den letzten Monaten geschaffen. In der Wochenzeitung Freitag haben Frank E.P. Dievernich und René Thiele, zwei Protagonisten dieses digitalen Kapitalismus, für den Hochschulbereich klar formuliert, was auch in vielen anderen Sektoren gilt:

Die Pandemie zwang die Universitäten zur Lehre in Online-Formaten. Das war lange überfällig, ein Zurück wäre ignoranter Luxus.

Frank E.P. Dievernich und Rene Thiele

Sie benennen auch klar, was die Digitalisierung für das Kapital so attraktiv macht: Die Menschen werden noch mehr vereinzelt und isoliert. Die Studierenden sollen gar nicht mehr in Seminaren mit anderen Kommilitonen zusammenkommen, sondern individuell am Computer lernen. Vorlesungen gelten für Dievernich und Thiele als altmodisch und anachronistisch.

Was sie hier aufzeichnen, ist das Wunschbild des Kapitals, dass sich seiner Antagonisten entledigt hat. Hier könnten Veränderungen eintreten, die anders als der Lockdown vom Frühjahr viel langfristigere Folgen haben. Es wäre an der Zeit, sich damit zu befassen und Gegenstrategien zu entwickeln und sich nicht über Masken zu streiten. Peter Nowak