Auch in Deutschland wird über Alternativen zu Polizei und Gefängnis nachgedacht. Oft wird aber vergessen, über den stummen Zwang der Verhältnisse im Kapitalismus zu reden

Besser leben ohne Polizei?

Eine Polizeikritik, die nicht einen Zustand herbeiführen will, der noch hinter die bürgerliche Gesellschaft zurückfällt, muss auch über die kapitalistische Gesellschaft reden. Schließlich ist die Polizei in der bürgerlichen Gesellschaft dafür verantwortlich, dass die Kapitalakkumulation funktioniert. Es war aber schon das Problem bei der autonomen Staatsvorstellung der 1980er Jahre, dass dort viel von Repression und Polizeigewalt, viel weniger aber von der kapitalistischen Ausbeutung die Rede war.

Es ist schon einige Wochen her, dass auch in Deutschland Tausende gegen Polizeigewalt auf die Straße gegangen sind. Ausgelöst wurden die Proteste durch den Tod von George Floyd in den USA. Damals erklärten einige Aktivisten, dass sie durchaus auch gegen die Polizeigewalt in Deutschland protestierten, obwohl konservative Politiker und Polizeigewerkschaftler unisono kritisierten, hier würde eine Debatte aus den USA ohne Grund auf Deutschland übertragen. Die Tausenden, die nach den Tod von Floyd in Deutschland auf die Straße gingen, wurden allerdings vermisst, als beispielsweise …..

…. vor einigen Wochen in Berlin an den Tod von Maria B. erinnert wurde, die im Februar in einer psychischen Ausnahmesituation von der Polizei in ihrer Wohnung erschossen wurde.

Selbst im osthessischen Fulda gingen nach Floyds Tod zahlreiche junge Menschen auf die Straße. Wo sind sie, wenn es um die Aufklärung der tödlichen Polizeischüsse auf einen jungen Afghanen in der Stadt vor 2 Jahren geht? Dass das schon eingestellte Verfahren gegen den Todesschützen jetzt noch einmal aufgenommen wurde, ist dem Bruder des Getöteten und einer kleinen Gruppe von Migranten und Antirassisten zu verdanken, die dafür wegen Verleumdung angeklagt werden. So steht am 20. August in Fulda ein Mann vor Gericht, weil auf einer Gedenkdemonstration zum Jahrestag der tödlichen Schüsse polizeikritische Parolen skandiert haben soll. Wie ernst es Demonstranten, die nach Floyds Tod auf die Straße gingen, mit ihrer polizeikritischen Haltung nehmen, muss sich also erst noch erweisen.

Warum sorgt für Empörung, was zum normalen Polizeialltag gehört?

Doch die Polizei sorgt selber dafür, dass nicht in Vergessenheit gerät, dass Polizeigewalt keinesfalls nur ein Problem in den USA oder in Russland ist. Gleich zwei Videos lassen Empörung entstehen, obwohl dort nur zu sehen ist, was zum normalen Polizeialltag bisher gehörte.

Sowohl in Düsseldorf als auch in Hamburg hat die Polizei bei der Festnahme von jungen Menschen Gewalt angewendet. Wenn die Organisation Seebrücke nun ihre Pressemitteilung mit der Schlagzeile „Polizei hat ein Gewaltproblem“ betitelt, muss man sich fragen, wo das Besondere ist.

Ist die massive Polizeigewalt während der Proteste gegen das G20-Treffen in Hamburg vor drei Jahren schon vergessen? Zumindest für den politisch Verantwortlichkeiten Olaf Scholz scheint das keine Nachwirkungen zu haben. Es gab einige Kritik an Scholz nach seiner Nominierung zum Kanzlerkandidaten der SPD. Seine Verantwortung für die Polizeigewalt 2017 in Hamburg gehört nicht dazu. Zudem wird wohl auch bei Organisationen wie Seebrücke vergessen, dass die Polizei Träger des staatlichen Gewaltmonopols ist und daher die Aussage, sie hat ein Gewaltproblem, eigentlich eine Zustandsbeschreibung ist. Wenn dann noch der Rücktritt gefordert wird, weil die Polizei tut, für was sie im bürgerlichen Staat da ist, eben Teil der repressiven Staatsapparate zu sein, der hat ein Wunschbild vom bürgerlichen Staat.

Die Bundeswehr soll dann eine Art verlängerter Arm von Amnesty International sein und die Polizei eine Art Sozialarbeiter in Uniform. Doch genau diese Utopie, die lange Zeit in Teilen der anarchistischen und autonomen Szene zu finden war, bekommt in der letzten Zeit verstärkt auch Zustimmung in anderen Teilen der Gesellschaft.

Maria B. wäre wahrscheinlich nicht erschossen worden, wenn diese Reformen umgesetzt worden wären

Das jüngste Beispiel ist ein Papier der Grünen Jugend, die die Polizei neuaufstellen will. Darunter sind vernünftige Überlegungen, die auch in einer reformerischen Perspektive umgesetzt werden können.

In vielen Bereichen wird die Polizei de facto für Aufgaben gerufen, denen speziell geschulte Berufsgruppen besser und effektiver nachkommen könnten – sei es der Umgang mit Opfern häuslicher oder sexualisierter Gewalt, mit Fußballfans oder Obdachlosen, Geflüchteten oder Suchtkranken. Wenn Menschen aufgrund akuter Not, vermeintlicher Ausweglosigkeit oder einer psychischen Erkrankung sich und anderen Schaden zufügen, dann hilft es ihnen und der Gesellschaft nichts, ihnen dafür mit Gewalt zu begegnen und durch einen Polizeieinsatz die Situation möglicherweise noch mehr zu eskalieren. Zuallererst braucht es frühzeitige Hilfen und Präventionsmaßnahmen, damit gar nicht erst soweit kommen kann.

Aus dem Papier der Grünen Jugend „Polizei neu aufstellen“

Maria B. könnte wahrscheinlich noch leben, wenn die Frau in einer psychischen Ausnahmesituation statt von einer bewaffneten Polizei von Sozialarbeitern aufgesucht worden wäre. Das betonten auch mehrere Rednerinnen und Redner auf der Gedenkdemonstration sechs Monate nach ihren Tod.

Die Organisatoren aus dem anarchistischen Spektrum beließen es nicht bei einer Polizeikritik, sondern benannten sozialpädagogische Alternativen, die dann aktiv werden könnten. Denn die Polizei wurde damals von einen Mitbewohner von Maria B. gerufen, der sich von ihr bedroht fühlte. Es ist tatsächlich sehr vernünftig, hier die sozialpsychologischen Dienste auszubauen, die schließlich besser mit solchen Situationen umgehen können sollen als die Polizei. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass solche sozialen Dienste ebenfalls die Polizei zu Hilfe rufen, wenn die Situation eskaliert.

Mit Sozialarbeit gegen Neonazis?

Die weiteren Punkte im Grünen Papier drehen sich um den Kampf gegen rechts und gegen Rassismus innerhalb der Polizei, was natürlich ein wichtiges Thema ist. Doch ein Aspekt wird von den meisten Polizeikritikern eher ignoriert. Wie umgehen mit einem Klientel, dem mit einem sozialpädagogischen Ansatz nicht so einfach beizukommen ist?

Wenn beispielsweise ein Neonazi-Konzert aufgelöst werden soll, weil dort der Hitler-Gruß gezeigt wird, werden auch die meisten linken und liberalen Polizeikritiker nichts dagegen haben, wenn Polizisten Gewalt anwenden oder auf Festgenommenen knien. Es gibt schließlich schon lange die Kritik gegen akzeptierende Sozialarbeit bei Neonazis. Eine Polizeikritik, die in der Polizei heute das größte Problem sieht, steht in der Tradition einer Staatskritik einer kleinbürgerlichen Linken, die bereits in den 1980er Jahren am Beispiel von Theorie und Praxis der Autonomen moniert wurde. Dort stand oft die Staatsrepression im Mittelpunkt, oft wurde gleich vom Faschismus geredet, wie die unsägliche Parole Polizei – SA-SS zeigte.

Es fehlte ein Begriff vom bürgerlichen Staat und seinem Gewaltmonopol, das ein zivilgesellschaftlicher Fortschritt war, wenn die Alternative das Recht des Stärkeren ist. Wenn es in der aktuellen Gesellschaft keine Polizei mehr geben würde, gäbe es Gangs, die dann ihre Gewalt im Stadtteil oder auch in einem Haus durchsetzen. Es gibt dafür genügend Beispiele in zerfallenen Staaten wie Libyen und Somalia.

Bausteine einer emanzipatorischen Polizeikritik

Eine Polizeikritik, die nicht einen Zustand herbeiführen will, der noch hinter die bürgerliche Gesellschaft zurückfällt, muss auch über die kapitalistische Gesellschaft reden. Schließlich ist die Polizei in der bürgerlichen Gesellschaft dafür verantwortlich, dass die Kapitalakkumulation funktioniert. Es war aber schon das Problem bei der autonomen Staatsvorstellung der 1980er Jahre, dass dort viel von Repression und Polizeigewalt, viel weniger aber von der kapitalistischen Ausbeutung die Rede war. So wird der stumme Zwang der Verhältnisse kaum wahrgenommen, wenn Menschen nicht von der Polizei sondern von kapitalistischen Profitinteresse Gewalt erfahren. Die Taz-Journalistin Katharina Schipkowski hat eine Debatte, in der die Polizei abgeschafft werden soll, ohne die gesellschaftlichen Bedingungen zu benennen, präzise kritisiert:

Um Geflüchtete auf den primären Arbeitsmarkt zu bringen, müsste man die Asylgesetze ändern. Um sexualisierte Gewalt besser verfolgen zu können, mindestens das Patriarchat abschaffen. Nicht jeder Psychopath wird sich außerdem überreden lassen, kollektive Verantwortung zu übernehmen, nicht jeder kleingeistige Idiot davon absehen, sich auf Kosten der Gemeinschaft Vorteile zu verschaffen. Auch will man natürlich keine bewaffneten Gangs, die wie in brasilianischen Favelas Polizei und Sozialstaat ersetzen. Internationalen Menschenhändlerringen wird die Nachbarschaft auch nicht beikommen können.

Katharina Schipkowski

Die Autorin scheut sich auch nicht, das K-Wort zu verwenden:

Das ist der eigentlich wichtige, wenn auch mit großem Zeitaufwand verbundene Punkt, muss sich die Gesellschaft insgesamt eben doch verändern. Es funktioniert einfach nicht, die Forderung nach „Sicherheit für alle“ isoliert von der nach Wohnraum für alle, Gesundheitsversorgung, Recht auf Arbeit und Bewegungsfreiheit für alle zu betrachten. Ein System aber, das darauf basiert, dass wenige gewinnen und viele verlieren, verlangt eben nach einer Instanz, die gewaltvoll verhindert, dass die vielen sich erfolgreich organisieren und Gerechtigkeit einfordern. Die Polizei abzuschaffen und den Kapitalismus aufrechtzuerhalten funktioniert also nicht.

Katharina Schipkowski

Gefängnisse und Kapitalismus

Das gilt übrigens auch für die Kritik an den Gefängnissen, die mittlerweile nicht nur in anarchistischen Kreisen geübt wird. So begründet der ehemalige Gefängnisdirektor Thomas Galli in seinen in der Edition Körber erschienenen Buch „Weggesperrt“, warum Gefängnisse niemandem nützen. Er trägt dort viele vernünftige Argumente gegen die Gefängnisse zusammen, betont aber, dass er den Kapitalismus nicht infrage stellen will.

Doch in seinen Ausführungen widerspricht er sich dann selber: So hat man bei der Lektüre bisweilen den Eindruck, Galli wolle das System von Gefängnissen und Strafen nur umbauen und nicht abschaffen. So betrachtet er die sogenannte elektronische Fußfessel als ein probates Mittel zur Kontrolle von Menschen. In schweren Fällen sollten Verurteilte in „inselartigen, gegen Fluchtversuche gesicherten Wohnsiedlungen leben müssen“.

Die Ersatzfreiheitsstrafen will Galli durch andere Sanktionen ersetzen. „Wer immer wieder schwarzfährt, könnte beispielsweise dazu angehalten werden, einige Stunden im Monat bei der Reinigung der städtischen Busse zu helfen. Begleitend müssen die Betroffenen jedoch bei ihrer Bewältigung ihrer sozialen und gesundheitlichen Probleme unterstützt werden“, schreibt Galli. Er bestätigt damit eigentlich, was er widerlegen will. Polizei und Gefängnisse können nicht getrennt von der kapitalistischen Gesellschaft betrachtet und kritisiert werden. Das bedeutet allerdings nicht, auch schon hier und heute konkrete Reformen zu erkämpfen, wie sie von der Kampagne Ersatzfreiheitsstrafen abschaffen propagiert werden. (Peter Nowak)