Nicht nur die Brexit-Gegner, sondern auch die Befürworter arbeiten mit Propaganda und Demagogie

Doppelstandards in Sachen Brexit

Es wäre auch in der Brexitdebatte nötig, eine dritte Position einzunehmen und die einseitigen Darstellungen in den meisten Medien als das zu erkennen was sie sind, Propaganda für das deutsche EU-Projekt.

Kommt der No Deal-Brexit oder nicht? Diese Frage dürfte in den nächsten Wochen noch die Medien in Deutschland beschäftigen. In den letzten zwei Wochen gab es im Deutschlandfunk kaum eine längere Nachrichtensendung, in der der Brexit nicht Thema war. Nun könnte man denken, das hat ja auch eine Berechtigung. Schließlich beschäftigt der Brexit Millionen Menschen, natürlich vor allem in Großbritannien. Dort gibt es Menschen, die den Brexit aus unterschiedlichen Gründen möglichst schnell durchziehen wollen, andere, die ihn ebenfalls aus unterschiedlichen Gründen mit allen Mitteln verhindern wollen. Dann gibt es noch die Menschen, die den Brexit nicht in Frage stellen, die sich aber gegen einen ungeregelten Brexit wehren. Doch diese Gemengelage wird bei der Brexit-Debatte in Deutschland….

….überhaupt nicht abgebildet. Spätestens nachdem Boris Johnson die Regierung in Großbritannien übernommen hatte, wird der Eindruck erweckt, hier würde ein Mann sich zum Quasi-Diktator aufschwingen und gemeinsam mit einigen Brexit-Hardlinern dem ganzen Land seinen Willen aufzwingen. 

Sekundiert wird diese Meinung beispielsweise durch Gesprächspartner aus Großbritannien, die schon seit Jahren deutlich machen, dass sie den Brexit für den Supergau halten und die immer wieder Szenarien vor den Hörern ausgebreitet haben, wie der doch noch verhindert werden kann.

Mit der Nominierung des erklärten Brexiteers Johnson durch seine Konservative Partei schien bei einigen die Zuversicht zu schwinden, dass der Brexit noch verhindert werden kann. Doch diese Niedergeschlagenheit legte sich schnell. Spätestens als Johnson die Parlamentspause verfügte, war das Bild vom „Diktator in der Downingstreet“ geboren, dem vielleicht das Parlament doch noch einen Strich durch die Rechnung machen könnte.

Am Anfang eine Mehrheit bei einem Referendum

Es war dann tatsächlich eine absolute Ausnahme, wenn mal ein Gesprächspartner im Deutschlandfunk zu Wort kam, der den Brexit nicht als größtes anzunehmendes Unglück betrachtete, sondern einfach mal daran erinnerte, dass der Brexit nicht die größenwahnsinnige Idee eines Boris Johnsons, sondern das Ergebnis eines Referendums war. Es gab eben am 23. Juni 2016 nach einer monatelang in Großbritannien geführten Debatte eine Mehrheit für den Austritt.

Nun kann man wie bei allen Referenden und Wahlen argumentieren, es war aber nur eine Mehrheit derer, die sich an der Abstimmung beteiligt haben. Dann müsste man allerdings auch die meisten Ergebnisse bürgerlicher Wahlen infrage stellen. Denn die Mehrheitsverhältnisse kommen in der Regel durch die Menschen zustande, die sich an den Wahlen beteiligen. Die wenigen Länder mit Wahlpflicht müssten gesondert betrachtet werden.

In den USA ist Trump sogar Präsident, obwohl er nicht einmal die Mehrheit der Wählerstimmen erhalten hat. Aber selbst die größten Trumpkritiker haben das Prozedere damals nicht infrage gestellt. Denn das Wahlmännersystem, das einen Kandidaten zum Präsidenten wählt, obwohl er weniger Stimmen als sein Konkurrent erhalten hat, gehört zum bürgerlichen System.

Dann ist es eben auch kein Verfassungsbruch, sondern Pech, wenn nun Trump davon profitiert hat. Und die meisten Trumpkritiker stellen trotzdem das System nicht infrage, sondern versuchen bei den nächsten Wahlen daraus zu lernen, indem sie sich auf die berühmten Swing-Staates konzentrieren und hoffen, dass sie beim nächsten Mal mehr Glück haben. Ob es klappt, wird sich im nächsten Jahr zeigen.

Genau so ist das Ergebnis des Brexit-Referendums formal korrekt zustande gekommen. Das wird auch von niemand bestritten. Diejenigen, die einwenden, die Brexiteers hätten mit Demagogie und gar Fake News gearbeitet, müssten sich auch fragen lassen, bei welchen Wahlen ist das anders?

In Venezuela zumindest gibt es Gesetze, die Falschnachrichten bei den Wahlen verhindern sollen. Das wird aber von vielen als Einschränkung der Wahlfreiheit eines nominalsozialistischen Systems gesehen. Dabei müssten diejenigen, die Falschnachrichten bei Referenden und Wahlen kritisieren, eigentlich überprüfen, ob das Gesetz in Venezuela nicht geeignet ist, in ihrem Sinne Abhilfe zu schaffen.

So kann Pro-Brexit-Demagogie aussehen

Nun wird immer von den Fake-News der Brexiteers geredet. Doch wie sieht es um die Debattenkultur der Gegner aus? Der liberale Künstler Wolfgang Tillmanns engagierte sich mit eigenen Plakaten für den Verbleib Großbritanniens in der EU. Dort kann man unter anderen lese: „Demokratie, Frieden und Menschenrechte haben viele Feinde. Der Brexit macht sie stärker.“

Die Menschen in Serbien, die auch von EU-Ländern bombardiert wurden, dürften eine andere Meinung vom Friedensprojekt EU haben, wie auch die Migranten, die im Mittelmeer ersaufen von der EU-Demokratie. Das sind eben unterschiedliche Sichtweisen im Meinungsstreit. Doch auf einem der Anti-Brexit-Plakate wird ein Pro-Brexit-Votum so begründet: „Vladmimir Putin, Rupert Murdoch, George Galloway Nigel Farrage, Abu Bakr alBaghdadi (IS)… wollen, dass Großbritannien die EU verlässt…“, dann ist die Grenze zur Demagogie weit überschritten.

Im Lifestylemagazin Bento werden die Plakate mit der Überschrift beworben: „So gut kann Werbung für Europa aussehen“. Da wird schon deutlich, dass Demagogie für eine vermeintlich gute Sache schon akzeptiert wird. Das ist nicht das einzige Beispiel für Doppelstandards in Sachen Brexit.

Hat die EU Respekt vor dem britischen Parlament?

Da wird immer wieder betont, wie undemokratisch es sei, dass Johnson, das Parlament in eine Pause geschickt habe. Er habe keinen Respekt vor dem Parlament, heißt es da. Nur hat Johnson hier einen durchaus nicht unüblichen Schritt getätigt. Die Zwangspause war kein Putsch; eine Parlamentspause ist in Großbritannien durchaus vor den Parteitagen von Konservativen und der Labourpartei üblich.

Insgesamt hat Johnson diese Pause aber um einige Tage verlängert. Zuvor hat das Unterhaus noch sein Gesetz gegen den ungeregelten Brexit beschlossen. Nun befassen sich Gerichte mit der Zwangspause. Es gab unterschiedliche Urteile. Ein schottisches Gericht hat sie jetzt wegen der Brexitdebatte für ungesetzlich erklärt. Jetzt muss eine höhere Instanz entscheiden.

Schließt die sich dem Votum an, wären manche der Abgeordneten, die jetzt so lautstark die Rechte des Parlaments beschwören, in einem Dilemma. Sie bereiten sich auf die Parteitage vor und sind insgeheim eigentlich froh, dass sie durch die verlängerte Parlamentspause mehr Zeit haben. Von mangelnden Respekt Johnsons vor dem Parlament war in den letzten Tagen viel die Rede. Doch wieso spricht niemand von mangelndem Respekt der EU vor dem Unterhaus? Schließlich beharrt sie weiter auf einem Abkommen, das vom britischen Parlament gleich mehrmals abgelehnt wurde.

Wenn dann von EU-Seite unisono betont wird, man werde das Abkommen keineswegs neuverhandeln, dann ist das doch eine klare Ignoranz des Parlaments. Wenn man ein bilaterales Abkommen schließen will und das bisherige Ergebnis von einer Seite nicht akzeptiert wird, geht eben kein Weg an Neuverhandlungen vorbei. Ansonsten ist es ein Diktat von der Deutsch-EU gegenüber Großbritannien.

Genau diese Strategie will Johnson mit der Drohung eines No-Deal-Brexits konterkarieren. Deshalb sperrt er sich auch so dagegen, dass ihm das Parlament da in die Parade fährt und sich so als williger Helfer der EU-Interessen zeigt. Das Gesetz, das einen No-Deal ausschließen soll, soll sogar von EU-Bürokraten mitformuliert worden sein. Das zeugt auch nicht gerade von Respekt gegenüber dem Unterhaus.

Dass es Alternativen zum Backstop gibt, mit dem die EU Großbritannien als wirtschaftlichen Konkurrenten kleinhalten will, geben sogar erklärte Brexit-Gegner zu. Da könnte man sich beispielsweise darauf einigen, dass nicht ganz Großbritannien, sondern nur Nordirland in der Zollunion verbleibt.

Es könnte sein, dass Johnson – der anders als seine Vorgängerin nicht auf die Stimmen der nordirischen Unionisten angewiesen ist, weil er auch mit ihnen keine Mehrheit hat – hier noch Verhandlungsspielraum hat. Es ist also durchaus noch nicht klar, ob der britische Premier nicht doch einen moderat veränderten Brexit-Vertrag präsentiert und dann das Unterhaus wieder in die Zwangslage bringt, zustimmen oder ablehnen zu müssen.

Corbyn oder Brexit?

Denn Johnson hat einen Trumpf darin, dass er sich als Alternative zu einem sozialdemokratischen Premierminister Corbyn präsentierten kann. Wenn sie die Wahl zwischen einem Brexit oder einem Premierminister Corbyn haben, würden manche einen Austritt aus der EU als das kleinere Übel sehen.

Daher haben auch überzeugte Brexit-Gegner im Unterhaus, bisher nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, Johnson zu stürzen und Corbyn zu wählen. Auch bei der Diskussion im Deutschlandfunk wurde klar, wie verhasst Corbyn auch in vielen proeuropäischen Kreisen ist. Da behauptete einer der Referenten, der Marxist Corbyn hätte keine Unterstützung in Land und sei deshalb keine Alternative.

Tatsächlich hat er es bei der letzten Wahl geschafft, der Labourpartei einen Stimmenzuwachs zu verschaffen. Vor allem aber hat er mit seiner Hinwendung zu einer linkssozialdemokratischen Programmatik viele junge Menschen, aber auch sozial abgehängte Schichten, angesprochen. Daher war er gewiss vorschnell von Teilen der Linken in Deutschland schon zum Hoffnungsträger erklärt worden.

Doch Corbyn und seine Unterstützer gewannen Zustimmung, indem sie von den sozialen Verheerungen sprachen, die der Kapitalismus seit Margreths Thatcher in Großbritannien angerichtet hat. Es wurde mit den Menschen gesprochen, die in den ehemaligen Industriegebieten, aber auch in den neuen Zentren des Billiglohns unter die Räder dieses Kapitalismus gekommen waren. Und unter Corbyn wurde der Kapitalismus auch wieder beim Namen genannt.

Das hat ihm Vertrauen bei einem Teil der Menschen eingebracht, die in den letzten Jahren erfahren haben, dass zwischen Labourpartei und den Tories in den entscheidenden wirtschaftlichen Fragen kaum ein Unterschied bestanden hat. Die Tragik besteht darin, dass durch die Brexitdebatte diese soziale Dynamik teilweise in den Hintergrund getreten ist. Die Diskussion über einen Austritt aus der EU leidet darunter, dass vergessen wird, dass Briten in und außerhalb der EU weiter den Zwängen des Kapitalismus ausgeliefert sind.

Das waren sie als Teil der EU die letzten 40 Jahre und das könnte sich noch verstärken, wenn sich die ultrakapitalistischen Vorstellungen einiger einflussreicher Brexiteers durchsetzen, die aus der Insel ein globales Billiglohnland mit niedrigen Steuern machen wollen. Doch es gibt auch linke Brexit-Anhänger, die gerade deswegen aus der EU rauswollen, weil sie die von ihnen favorisierten sozialen Maßnahmen im Rahmen dieses Clubs der kapitalistischen Staaten nicht durchsetzen könnten. Es wäre notwendig, hier eine klare Differenzierung zu machen und die Frage „Für oder gegen den Brexitß“ niedriger zu hängen.

Was Vincent Welsch von der linksreformistisch-proeuropäischen Formation Diem 21 in einem Beitrag für die Tageszeitung Neues Deutschland für das EU-Parlament konstatiert, kann man auch auf die Brexit-Debatte übertragen:

Jahre des Sparzwangs und der politischen Apathie haben dagegen auf dem Kontinent und auch anderswo die Renaissance der Rechten vorangetrieben. Hieraus entsteht eine falsche Dichotomie, die Wählerinnen und Wähler scheinbar nur die Wahl zwischen einem kleineren Übel und der populistischen Wildcard lässt. Establishment und Nationalisten nähren sich gegenseitig: In ihrer Inkompetenz und Bedrohlichkeit sind sie voneinander abhängig und auf die Ablehnung des jeweils anderen angewiesen, um als Option für die Wählerschaft wahrgenommen zu werden.

Vincent Welsch, Neues Deutschland.

Es wäre auch in der Brexitdebatte nötig, eine dritte Position einzunehmen und die einseitigen Darstellungen in den meisten Medien als das zu erkennen was sie sind, Propaganda für das deutsche EU-Projekt.