Über das Elend einer Debattenkultur und ihren Förderern und Profiteuren

Es geht um das bürgerliche Bildungsprivileg, nicht um Rassismus

Politiker*innen, die sich also jetzt darüber echauffieren, dass ein CDU-Politiker vorschlägt, Kinder schon vor der Einschulung auszusieben, sollten nicht länger dazu schweigen, dass diese Kinder ja ganz selbstverständlich nach der vierten Klasse von den anderen getrennt werden.

Die sogenannte Debattenkultur im Spätkapitalismus in Deutschland ist mit dem Begriff unterirdisch noch schmeichelhaft umschrieben. Da schreiben sich seit Tagen die führenden Medien dieser Republik die Finger wund, ob einige Sätze der Rede, die der mittelständische Unternehmer Clemens Tönnies auf dem Tag des Handwerks in Paderborn gehalten hat, diskriminierend oder rassistisch waren. Dabei hat er einfach nur die reaktionäre Unterpropaganda gegen höhere Umweltsteuern von sich gegeben. Das wäre nicht weiter aufgefallen, wenn er nicht….

….. dann einige despektierliche Äußerungen zum afrikanischen Kontinent gemacht hätte. Aber das ist heute fast so tabu wie das Stellen der Eigentumsfrage. Prompt landet das Thema als Aufmacher beim Deutschlandfunk, wo dann gleich Rassismus in Fußballstadien mit abgehandelt werden. 

Solange man die kapitalistische Weltordnung in Ruhe lässt, nicht über den Müllexport aus dem globalen Norden nach Afrika spricht und auch nicht über die Überfischung der EU-Staaten in afrikanischen Meeren, kann man umso deutlicher Diskriminierung verurteilen. Denn diskriminiert wollen die deutschen und afrikanischen Politiker nicht werden.

(Einfügung: Schon vor der aktuellen Aufregung wurde die Tönnies-Fleischverarbeitung zum Kandidaten der Aktion Arbeitsunrecht in Deutschland ausgewählt. Immer, wenn der 13. eines Monats auf einen Freitag fällt, wird ein Unternehmen, das besonders gegen Arbeiterrechte verstößt, in den Fokus des Protests gerückt. Dann werden vor den Filialen dezentrale Proteste geplant. Tönnies wurde von den Kolleginnen und Kollegen unter mehreren Kandidaten ausgewählt. Zu den Gründen heißt es auf der Webseiteder Aktion Arbeitsunrecht:

„Tönnies-Betriebsräte gibt es nur an den Standorten in Rheda-Wiedenbrück und Söden. Am Standort Rheda-Wiedenbrück arbeiten laut Gewerkschaft NGG rund 4.000 Beschäftigte, weniger als 500 sollen fest angestellt sein. Die Werkvertragsarbeiter arbeiten für Subunternehmen wie z.B.DSI GbmH, Besselmann Services und MTM Dienstleistung GmbH. So fallen sie aus des Zuständigkeit des Tönnies-Betriebsrats. Der durch das massive Lohndumping entstehende Preisdruck wirkt auf die fest Angestellten, aber auch die Konkurrenz im Ausland, die beim Preisverfall nicht mithalten kann.“)

In Deutschland trotz guter Deutschkenntnisse nicht erwünscht

Bei so viel Aufregung um schlechte Mittelstandsunternehmerprosa muss sich nun niemand fragen, warum in Nürnberg Asif N., ein junger Mann, der als 13-Jähriger vor dem Terror der Taliban aus Afghanistan nach Deutschland floh und über mehrere Jahre um eine Zukunft in Deutschland kämpfte, jetzt still und heimlich in ein Land zurückreiste, das er hinter sich lassen wollte. Dabei hatten vor zwei Jahren solidarische Menschen die Abschiebung von Asif N. durch eine Blockade verhindert, wurden teilweise von der Polizei verletzt und wegen Widerstand angeklagt.

Der Schriftsteller Leonhard F. Seidl gehört zu den Menschen, die sich damals der Abschiebung widersetzten. Er berichtet jetzt in der Taz, warum der Mann zwei Jahre freiwillig ausgereist ist. In einem der Gespräche vor seiner Abreise wurde die tiefe Enttäuschung von Asif N. deutlich:

Ich versuche schon seit zwei Jahren eine Lehre anzufangen. Ich habe mehrere schulische Ausbildungen gemacht und sogar einen Betrieb gehabt. Und dann hat die Ausländerbehörde es nicht genehmigt. Ich darf nichts machen.

Asif N.

Abschiebeminister Horst Seehofer und rechte Blogger können feiern. Einem jungen Mann, der hier integriert war, Deutsch lernte und hoch motiviert seine berufliche Zukunft in der Bundesrepublik plante, wurde klargemacht, dass er nicht erwünscht ist.

Doch im Gegensatz zu der unverhältnismäßigen Aufregung für die heiße Luft von Tönnies, bekommt die Vertreibung von Asif N. keinen Aufmacher im Deutschlandfunk und wird in den meisten Zeitungen nicht erwähnt. Es ist eben einfacher, die korrekte sprachliche Bemäntelung der Verhältnisse einzufordern, als diese ändern zu wollen.

Linnemann profitiert von Debatte

Ein weiteres Aufregerthema ist seit einigen Tagen die Forderung des bisher wenig bekannten CDU-Politikers Carsten Linnemann, Kinder mit geringen Deutschkenntnissen bei der Einschulung zurückzustellen. Sofort wurden Linnemanns Wortmeldung auf die Forderung heruntergebrochen, er fordere ein Schulverbot für Kinder mit migrantischen Hintergrund. Sofort schloss sich die Kritik an, er wolle damit bei Rechten Zustimmung bekommen.

Linnemann korrigierte sich bald, fühlte sich falsch zitiert und erklärte, nie ein Schulverbot gefordert zu haben. Das wäre übrigens eine Forderung, die wegen der in Deutschland obligatorischen Schulpflicht gar nicht durchzusetzen wäre.

Doch Linnemann hat von der Debatte schon profitiert. Ein kurzer Blick auf seine Homepage zeigt, dass er konservative Duftmarken setzten will. „Wir brauchen eine Null-Toleranz-Politik“, heißt es dort. Da braucht gar nicht erst erklärt zu werden, für oder gegen was. Das kommt bei den Law-and-Order-Verfechtern aller Parteien gut an, daher ist es auch absurd, ihm vorwerfen zu wollen, er wolle bei Rechten Zustimmung. Ja, was denn sonst und wo soll da eigentlich der Vorwurf sein? Heißt es nicht immer auch von Liberalen, die CDU soll ihr konservatives Profil schärfen, um bei der AfD Stimmen abzujagen?

Genau das macht Linnemann und hat es so geschafft, innerhalb seiner Klientel bekannter zu werden. Mit ihm wird man rechnen müssen, wenn Posten in der Nach-Merkel-Ära in der CDU zu verteilen sind. Daher hat sich die Debatte für ihn gelohnt, die Missverständnisse waren einkalkuliert. Dass er noch mal klarstellen konnte, er habe nie gefordert, was auch gesetzlich gar nicht möglich war, beschert ihm nun sogar einige Stunden länger Medienaufmerksamkeit, bis man sich neuen Themen zuwendet.

Er hat also, wie die für Bildungsfragen zuständige Taz-Redakteurin Anne Lehmann richtig schreibt, einen PR-Coup gelandet und auch die meisten seiner Kritiker haben dabei eher unabsichtlich mitgespielt.

Linnemann spricht nur aus, was im deutschen Bildungssystem Realität ist

Dabei sollte man sich für eine kritische Debatte wohlfeile, aber auch von Linnemann eingepreiste Rassismusvorwürfe sparen und vielmehr den Blick auf die Realität im deutschen Bildungssystem werfen. Dann würde deutlich, dass das Bildungssystem in Deutschland so ausgrenzend war und ist, wie es Linnemann ausdrückt. Anne Lehmann hat das getan und kommt zu einer ernüchternden Erkenntnis:

Linnemann geht es natürlich nicht um Gerechtigkeit. Seine Bemerkung atmet genau jenen Geist der Aussonderung und des Lernens im Gleichschritt, der das deutsche Schulsystem prägt. Statt zu fragen, wie kann die Schule dem Kind gerecht werden, wird immer noch viel zu sehr darauf geschaut: Passt das Kind zur Schule? Spätestens ab der vierten Klasse, wenn es um den Übergang aufs Gymnasium oder um andere Schulformen geht, betrifft diese Frage alle Grundschüler*innen. Und das nicht nur mit Unterstützung konservativer Politiker*innen und Lehrer*innenverbände, sondern auch mit Billigung vieler Eltern, die ihren Nachwuchs sicher vor den Schmuddelkindern beschult wissen wollen.

Anne Lehmann, Taz

Lehmann zeigt auch auf, dass dieser Geist der Ausgrenzung im Bildungswesen in der letzten Zeit stärker geworden ist. Das ist nicht nur und nicht mal in erster Linie eine Folge der Stärkung der AfD, die bis auf ihre Kampagne gegen eine angebliche Frühsexualisierung von Kindern in der Bildungspolitik bisher wenig Duftmarken setzen konnte. Der Geist der Ausgrenzung wird auch von einer neuen grünwählenden Mittelklasse erzeugt, die ihre Kinder so früh wie möglich auf Privatschulen schicken will, weil sie größere Aufstiegschancen ihrer Kinder dann steigen sehen, wenn sie so schnell wie möglich von Kindern mit wenig Deutschkenntnisse, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, getrennt werden.

Der elitäre Geist wird auch durch scheinbar libertär und freiheitlich daherkommenden Projekten wie „Leben ohne Schule“ gefördert. Dort wollen ebenfalls Kinder einer sich freiheitlich gebenden Mittelstands nicht den Zumutungen der kapitalistischen Gesellschaft ausgesetzt werden. Es sind nicht zufällig Kinder, wie wir sie eher am Prenzlauer Berg, dem Stadtteil des grünen Mittelstands, als in Berlin-Kreuzberg sehen, die für den fiktiven Film „Leben ohne Schule“ gecastet wurden. Hier findet das Aussieben schon von Anfang an statt. Heute ist hingegen noch immer das Realität, was Anna Lehmann gut so beschreibt:

Politiker*innen, die sich also jetzt darüber echauffieren, dass ein CDU-Politiker vorschlägt, Kinder schon vor der Einschulung auszusieben, sollten nicht länger dazu schweigen, dass diese Kinder ja ganz selbstverständlich nach der vierten Klasse von den anderen getrennt werden.

Anne Lehmann

Wie eine etwas solidarischere Schule an der Stimme des Volkes scheiterte

Lehmann erinnert auch mit Recht an den letzten Versuch, das bestehende Schulsystem etwas solidarischer zu gestalten. Es fand 2010 in Hamburg statt und scheiterte an einem von konservativen Elternverbänden gestarteten Volksbegehren. Die AfD gab es damals noch gar nicht, die CDU war in Hamburg mit den Grünen an der Regierung und gehörte zu den Unterstützern der Reform.

Nach der Ablehnung durch ein Referendum trat der CDU-Bürgermeister Ole von Beust zurück. Es war aber eine Niederlage für eine solidarische Gesellschaft, die Folgen hatte. Seitdem will sich niemand mehr in den größeren Parteien mit Vorschlägen für Schulreformen profilieren, die die Ausgrenzung der unteren Klassen minimieren.

Das aber war der Geist der Schulreformdebatte in den späten 1960er und 1970er Jahren. Schon damals mobilisierten die Konservativen aller Parteien gegen Reformen, die das Bildungsprivileg des Bürgertums einschränken sollten. Das zu verhindern, war auch das Ergebnis des Hamburger Volksbegehrens. Die Union konnte es als Signal verstehen, die Verteidigung der Besserverdienenden wieder zu ihrer Angelegenheit macht. Carsten Linnemann hat dieses Signal verstanden viele seiner Kritiker offenbar nicht.

Es geht um das bürgerliche Bildungsprivileg

Daher machen sie Linnemanns Äußerungen zu einem Problem des Rassismus und nicht zu einer Klassenfrage. So fällt unter dem Tisch, dass heute nicht nur Kinder mit Migrationshintergrund Probleme mit den Deutschkenntnissen haben. Zudem stellt niemand die naheliegende Frage, warum Kinder mit Migrationshintergrund nicht bilingual erzogen werden sollen. Neben der deutschen Sprache sollte auch die Sprache der Herkunftsländer ihrer Eltern nicht vergessen werden.

Dann hätten sie die Möglichkeit, später selber zu entscheiden, in welchen Land sie leben wollen. Denn, wer sagt denn, dass sie die Entscheidung ihrer Eltern, ihre Heimatländer zu verlassen, nicht nachträglich ändern wollen? Vielleicht finden sie später ein Leben im Niedriglohnsektor in Deutschland nicht so attraktiv und wollen in den Ländern ihrer Herkunft ein Leben aufbauen? Sie könnten dann eine Entscheidung besser treffen, wenn sie auch diese Sprache beherrschen würden. Diese Wahlmöglichkeiten haben sie bisher nicht, wie der Fall des oben erwähnten Asif N. zeigt. Er hatte Deutsch gelernt, er wollte sich eine Zukunft in Deutschland aufbauen, er hatte eine Schreinerlehre begonnen und ihm wurde gezeigt, dass er nicht erwünscht ist.