Tobias Singelnstein und Kollegen untersuchen rechtswidrige Übergriffe Beamter auf Bürger und ihre Ursachen

Polizei sollte eine Fehlerkultur entwickeln

Tobias Singelnsteinist Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie an der Ruhr Universität Bochum. Er leitet ein Forscher*innenteam, das die bislang größte Studie zu Polizeigewalt in Deutschland durchführt, für die mehr als 1000 Betroffene befragt wurden.Peter Nowaksprach mit ihm über die Untersuchung, der zufolge es jährlich mindestens 12 000 rechtswidrige Übergriffe durch Beamte gibt.

In der letzten Woche wurden erste Ergebnisse eines von Ihnen geleiteten Forschungsprojekts bekannt. Demnach gibt es in Deutschland jährlich rund 12 000 Fälle von illegaler Polizeigewalt. Wie kamen Sie zu diesem Befund?

Nach unseren bisherigen Befunden kann man davon ausgehen, dass das Dunkelfeld mehr als fünfmal so groß ist wie das Hellfeld, das wir ….

…..in der Statistik sehen. Dies lässt sich unter anderem daraus schließen, dass sehr viele der von uns Befragten sich gegen die Erstattung einer Anzeige entschieden haben. Eine Hochrechnung auf konkrete Fallzahlen kann man anhand dessen aus wissenschaftlicher Sicht nicht vornehmen. Das wird daher von der Studie auch nicht unternommen.

Was bedeutet illegale Polizeigewalt, wo doch das Gewaltmonopol beim Staat liegt und die Polizei in seinem Auftrag handelt?

Das grundsätzliche Gewaltverbot in unserer Gesellschaft gilt im Prinzip auch für die Polizei. Zwar dürfen Polizeibeamte im Einzelfall Gewalt anwenden, wenn eine polizeiliche Maßnahme auf anderem Wege nicht durchzusetzen ist. Bei den gesetzlichen Regelungen, die diesen Gewalteinsatz gestatten, handelt es sich jedoch um Ausnahmebefugnisse. Er ist nur dann erlaubt, wenn die Voraussetzungen dieser Regelungen vorliegen und Gewalt im Einzelfall erforderlich und verhältnismäßig ist. Werden die rechtlichen Grenzen der Befugnisse nicht eingehalten, ist polizeilicher Gewalteinsatz rechtswidrig und stellt dann in der Regel auch eine strafbare Körperverletzung im Amt dar.

Können Sie Beispiele für illegale Polizeigewalt nennen?

Die Bandbreite ist sehr groß. Das kann schon ein Schlag sein, der für die Durchsetzung der jeweiligen Maßnahme, zum Beispiel eine Festnahme, nicht erforderlich ist. Daran zeigt sich, dass die Grenzen zwischen rechtmäßiger und rechtswidriger polizeilicher Gewaltausübung in der Praxis mitunter nicht ganz einfach zu ziehen sind und Grauzonen bestehen.

Welcher Personenkreis ist besonders von Polizeigewalt betroffen?

Es gibt in der Forschung die These, dass marginalisierte Gruppen, die eine geringe Beschwerdemacht haben, in besonderer Weise von rechtswidriger Polizeigewalt betroffen sind. Hierzu gehören Geflüchtete ebenso wie etwa Wohnungslose und Drogennutzende. Dem gehen wir auch in unserer Studie nach.

Wo sehen Sie die wichtigsten Gründe für die illegale Polizeigewalt?

Die sind vielfältig. Dem Forschungsstand zufolge spielen sowohl individuelle und situative Faktoren als auch die strukturellen Besonderheiten der Polizeiarbeit eine Rolle. Das Spektrum reicht von Situationen der Überlastung, Überforderung und Übermüdung, in denen ein Beamter überreagiert, bis zu den Fällen, wo sich bestimmte rechtswidrige Praktiken in einer Dienststelle auf Dauer etabliert haben. Außerdem gibt es die sogenannten Widerstandsbeamten, die entsprechende Konfliktsituation auf sich ziehen und herstellen.

Was ist ein Widerstandsbeamter?

Als Widerstandsbeamte bezeichnen wir Polizisten, gegen die zum Beispiel etliche Anzeigen vorliegen und die offenkundig die Eskalation suchen.

Es gibt immer Forderungen wie die nach einer Kennzeichnungspflicht. Sehen Sie hier Lösungsansätze oder ist das nur Symbolpolitik?

Die in den vergangenen Jahren diskutierten Maßnahmen wie die Kennzeichnungspflicht und unabhängige Untersuchungsstellen sind erste konkrete Schritte. Darüber hinaus wäre aber ein Wandel in der Polizeikultur notwendig. Bislang wird das Problem in der Polizei, aber auch in Teilen der Politik, stark negiert bzw. man betont, es handele sich um Einzelfälle. Die Polizei sollte eine Fehlerkultur und einen professionellen Umgang damit entwickeln, anstatt in reflexhafter Abwehr zu verharren.

Mittlerweile ist der Anteil von weiblichen Polizistinnen gestiegen. Hat das Einfluss auf die Häufigkeit illegaler Gewalt?

In der Forschung wird davon ausgegangen, dass Alter und Geschlecht der handelnden Polizisten einen Einfluss auf das Geschehen haben können. Auch diesen Fragen gehen wir im Rahmen unserer Studie nach.

Steckt hinter der illegalen Polizeigewalt ein strukturelles Problem?

Ja, das kann man so sagen. Die Polizei darf wie beschrieben in bestimmten Situationen Gewalt zur Durchsetzung von Maßnahmen einsetzen und tut das täglich hundertfach, tausendfach. Es wäre ein Wunder, wenn es dabei nicht auch zu Grenzüberschreitungen und Missbrauch kommen würde. Insofern ist die polizeiliche Befugnis zum Gewalteinsatz notwendig mit dem Problem rechtswidriger Gewaltausübung verbunden. Eine Polizei, die das Gewaltmonopol des Staates ausübt, in der es aber keine rechtswidrige Polizeigewalt gibt, ist eine theoretische Idealvorstellung, die in der Praxis nicht vorkommt.

Wann ist Ihr Forschungsprojekt beendet und was soll mit den Ergebnissen geschehen?

Unser Projekt läuft noch bis zum kommenden Frühjahr. Dann haben wir auch den zweiten Projektteil, in dem wir qualitative Interviews führen, abgeschlossen und werden unseren Abschlussbericht vorlegen. Erste Zwischenergebnisse wollen wir aber schon im September präsentieren. Mit den Ergebnissen wollen wir nicht nur die wissenschaftliche, sondern auch die gesellschaftliche Debatte zum Thema voranbringen.