In der Türkei bekämpft sich die regierende AKP, gleichzeitig macht die totgesagte militante Linke wieder von sich reden
Eigentlich hat der islamistische türkische Präsident Erdogan fast all seine politischen Ziele erreicht. Die kemalistische Elite und die mit ihnen verbundenen Generäle sind ebenso wie die ehemaligen Verbündeten von der Gülenbewegung entmachtet und die außerparlamentarische Oppositionmarginalisiert. Doch jetzt scheint es erstmals Streit in Erdogans eigener Partei, der AKP, zu geben. Erdogan beschwerte sich, dass die Regierung seine ständigen Statements und Erklärungen nicht einfach zum Gesetz macht, sondern als das nimmt, was sie der türkischen Verfassung nach sind. Als Meinung eines politisch eher machtlosen Präsidenten, der nach der Verfassung vor allem Repräsentationsaufgeben hat.
Erdogan beschwerte sich etwa, er habe aus der Zeitung erfahren, dass die türkische Regierungzu den Friedensverhandlungen mit den Kurden auch eine Gruppe parteiunabhängiger Intellektueller hinzuziehen will. Erdogan nannte diese Entscheidung in der Sache falsch. Doch mehr störte ihn, dass er nicht gefragt wurde. Doch die Reaktion des stellvertretenden Ministerpräsidenten und Regierungssprechers Bülent Arınç erstaunte die politischen Beobachter in der Türkei, weil er doch Erdogan auf seine verfassungsgemäße Rolle zurechtstutzte.
„Arınç, wir wollen Dich nicht“
Seine Kommentare seien emotional und schadeten der Regierung, ließ Arınç den Präsidenten wissen. Der schwieg, aber seine Freunde in der Regierungspartei warfen sich für ihn die Bresche.
Melih Gökçek, AKP-Bürgermeister von Ankara, ist bekannt für seine brutalen Social-Media-Kampagnen gegen alles, was ihm nicht passt, offenbar auch gegen Parteifreunde. Gökçek rechnete [1] via Twitter mit dem parteiinternenn Kritiker ab. „Arınç, wir wollen Dich nicht.“ Dieser könne „nicht länger Sprecher der AKP sein. Er kann uns nicht repräsentieren. Arınç muss nun erst von seinem Job als Sprecher zurücktreten, und dann von seinem Platz in der Regierung.“ Außerdem sei er Teil einer Verschwörung des „parallelen Staates“ gegen die AKP. „Ich muss gestehen, ich hätte nicht gedacht, dass sie uns von innen angreifen würden. Sie haben es durch Bülent Arınç getan“, schrieb Gökçek.
Damit wird deutlich, dass die Verschwörungstheorien mit denen die Islamisten bisher alle Kritiker mundtot gemacht und kriminalisiert haben, nun in denparteiinternen Auseinandersetzungen zur Anwendung kommt. Arınç konterte auf ähnliche Weise und warf Gökçek vor, „im Schoß“ der Gülen-Bewegung gesessen zu haben – jener Vereinigung, die einst mit der AKP verbündet war, nun aber mit ihr verfeindet ist. „Er hat Ankara Stück für Stück an diese Struktur verkauft“, sagte Arınç. Im Übrigen werde er nach der Parlamentswahl am 7. Juni alle „Verfehlungen“ Gökçeks öffentlich machen. Jetzt sei es dafür noch zu früh, schließlich wolle er Rücksicht nehmen auf dessen Frau, die er respektiere und verehre.
Hoffnung für die parlamentarische Opposition?
Eine bessere Unterstützung kann er nur knapp zwei Monate vor der türkischen Parlamentswahl den Oppositionsparteien kaum bieten. Sie musste im letzten Jahrzehnt durch die islamistische AKP viele Niederlagen einstecken. Die größte Schmach für sie war der Einzug von Erdogan ins Präsidentenamt. Doch ob sie vom Streit in der AKP tatsächlich profitieren kann, ist völlig unklar. Das zeigt sich schon daran, dass sie sich an Kleinigkeiten aufhängt und Erdogan Verfassungsbruch vorwirft [2], weil er angeblich seine Überparteilichkeit dadurch verletzt habe, dass er das Programm der AKP für die Parlamentswahlen gelesen habe, bevor es veröffentlicht wurde.
Damit wird deutlich, dass ein Großteil der parlamentarischen Opposition an den realen Verfassungsbrüchen und der Unterdrückung der kritischen Meinungen wenig auszusetzen hat. So hat die AKP-Regierung ein Sicherheitspaket verabschiedet, das die Türkei zum Polizeistaat [3] macht, wie Reporter ohne Grenzen sagen.
Militante linke Opposition wieder aktiv
Dass die Gezipark-Proteste nach der großen Euphorie relativ schnell zerschlagen wurden und die parlamentarische Opposition keine wirkliche Alternative ist, stärkt die militante Linke in der Türkei. So besetzten am vergangenen Dienstag zwei Mitglieder der Revolutionären Volksbefreiungsfront-Partei DHKP-C im Justizpalast das Büro des in der Protestbewegung verhassten Staatsanwalts Mehmet Selim Kiraz und nahmen diesen als Geisel.
Der Staatsanwalt Kiraz ermittelte im Fall des 14jährigen Berkin Elvan [4], der während der Gezi-Park-Proteste gegen die autoritäre AKP-Regierung im Juni 2013 von einer Gasgranate der Polizei getroffen worden war und nach rund zehn Monaten im Koma verstarb. Nach dem Tod des Jungen, der unterwegs war, um für seine Familie Brot zu kaufen, gingen landesweit hunderttausende Menschen auf die Straße. Die Einstellung des Verfahrens gegen die Schützen, die für seinen Tod verantwortlich waren, sorgte für große Empörung bei der türkischen Opposition. Daher dürfte die Besetzung des Istanbuler Justizpalasts auch auf Sympathie gestoßen sein. Das Kommando forderte ein öffentliches Geständnis der für Berkins Tod verantwortlichen Polizisten im Fernsehen und ihre anschließende Verurteilung durch ein Gericht. Zudem sollten alle Ermittlungsverfahren gegen Demonstranten wegen der Proteste nach Berkins Tod eingestellt werden.
Die Entscheidung zur Stürmung des Gerichts sei nach sechsstündigen ergebnislosen Verhandlungen gefallen, erklärte der Istanbuler Polizeichef Selami Altınok. Bei der Erstürmung wurden die beiden Mitglieder des Kommandos und der Staatsanwalt getötet. Im Anschluss ging die Polizei mit großer Repression gegen Oppositionelle vor, die gegen die Stürmung des Büros durch die Polizei protestiert und die Forderung des Kommandos unterstützt hatten. Auch Mitglieder legaler linker Organisationen wurden verhaftet. Doch der militante Widerstand ging am Mittwoch weiter. Zwei Bewaffnete stürmten ein Büro der regierenden AKP-Partei in Istanbul. Später griffen zwei Bewaffnete das Hauptquartier der Polizei in Istanbul an, bei der eine der Beteiligten von der Polizei erschossen wurde.
Politische Beobachter sind erstaunt über die Reorganisation der DHKP-C, die in den späten 1970er Jahren gegründet wurde und in den Elendsvierteln der Türkei Unterstützung hatte. Zwischenzeitlich war die Organisation durch staatliche Repression stark dezimiert worden. Manche Beobachter behaupteten gar, ihre Anhänger lebten nurnoch im europäischen Exil. Die Aktionen der letzten Tage zeigrn, dass sich die Organisation reorganisiert und auch wieder Unterstützer gewonnen hat.
http://www.heise.de/tp/news/Erdogan-Regierung-in-der-Krise-2595222.html?view=print
Peter Nowak
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