Beschwörungen, Kitsch, Kritik und Verhaftungen

Nach der Räumung des Taksimplatzes: Wer macht welche Lernerfahrungen?

Am Tag danach kommen die Beschwörungen und der Kitsch. So scheint es zurzeit auch nach der Räumung der Protestcamps im Gezipark und Taksimplatz im Zentrum Istanbuls. „Eine andere Welt ist möglich. Wir haben im Gezi Park diese mögliche Welt gesehen. Es gibt sie. Du Tayyip Erdogan, Du kennst nur die Dunkelheit. Wir aber tragen die mögliche Welt im Herzen. Und mit dieser möglichen Welt im Herzen leisten wir gemeinsam Widerstand“, werden Protestaktivisten im Blog der globalisierungskritischen Webseite Attac direkt aus Istanbul zitiert. Tatsächlich gibt es in Istanbul erstmals seit Wochen keine lautstarken Proteste. Dagegen wurde nun eine neue Protestform etabliert, dass schweigende Verharren und unverwandt auf eine bestimmte Stelle blicken. Schweigender Protest, weil die Worte fehlen oder weil es gefährlich ist, sie zu formulieren? Denn die Regierung und ihre Repressionsorgane schweigen keineswegs.


Drohung mit dem Militär

Neben der Räumung der Protestzentren ist es vor allem die Drohung mit dem Militär und der berühmten schweigenden Mehrheit, die ihre Wirkung auch auf viele kritische Köpfe in der Türkei nicht verfehlt. Schließlich ist für viele Menschen die Erinnerung an den Terror in den Zeiten der Militärdiktatur noch präsent. Viele kritische Menschen verließen nach 1980 das Land. Die islamisch-konservative Erdogan-Regierung hat einige Zeit gerade mit dem Versprechen Zustimmung auch bei liberalen Kreisen gewonnen, dass er diese Militärs entmachtet. Das ist ihm auch bei den als kemalistisch etikettierten Militärs so gründlich gelungen, dass er sie jetzt als Werkzeug des neuen islamisch-konservativen Machtblocks zumindest als rhetorische Drohung einsetzen kann.

Doch genauso bedrohlich ist das Szenario einer Mobilisierung der konservativen schweigenden Mehrheit in der Türkei, zu der sich seit letztem Wochenende auch die faschistische MHP und andere ultranationalistische Gruppen gesellen, die mit ihren Fahnen auf den Pro-Erdogan-Kundgebungen aufgelaufen sind. Es ist bekannt, dass gerade die Grauen Wölfe, der Stoßtrupp der MHP, seit Jahrzehnten gegen Linke, Intellektuelle und kurdische Aktivisten mit Terror vorgegangen sind.

Verhaftungswelle in verschiedenen Städten

Doch vorerst sind es nicht Graue Wölfe oder Militär, sondern die türkische Polizei, die gegen linke Gruppen vorgeht. In der gesamten Türkei sind Massenfestnahmen gegen linke Aktivisten angelaufen, die sich in den letzten Wochen an den Protesten beteiligt haben. Allein in Istanbul wird von 90 Festnahmen berichtet. Betroffen sollen auch Blogger sein.

Es ist zu vermuten, dass die Repressionsorgane nun die verschiedenen Internetveröffentlichungen auswerteten, um Menschen kriminalisieren zu können. Viele Aktivisten dürften recht sorglos mit ihren Datenmaterial umgegangen sein. Schließlich berichteten Korrespondenten mit sichtlichem Erstaunen, dass in den letzten Tagen für manche Aktivisten die Gasmaske als Schutz vor Tränengas genau so zum alltäglichen Bestandteil der Ausgeh-Accessoires zählten wie sonst die modischen Sonnenbrillen. Überhaupt wurde auch in den hiesigen Medien der Protest oft als ein großes Fest dargestellt und so dürften es auch nicht wenige Protagonisten empfunden haben. Es war für sie ein Ausbruch aus einer genormten und verregelten Welt, in der man rund um die Uhr für die Lohnarbeit verfügbar sein muss.

Was hinterlassen die Camps?

Genau deshalb sind solche Camps in aller Welt auch so populär und Occupy war nur der bekannteste Name. Doch weil es eben bei dem temporären Ausbruch und der Sichtbarwerdung bleibt, sind diese Bewegungen auch nach einer gewissen Zeit wieder verschwunden und es ist schwer feststellbar, ob es bei den Beteiligten Lernprozesse begeben hat. Als bekanntes Beispiel soll hier nur die landesweite Campbewegung gegen teure Mieten in Israel genannt werden.

Nur haben diese Aktivitäten in den meisten Ländern für die Beteiligten auch keine allzu großen Konsequenzen im Nachhinein. Doch wie werden die Akteure reagieren, wenn sie womöglich noch mit Repressalien konfrontiert sind wie in der Türkei? Welche Lernprozesse werden bei den Beteiligten ausgelöst – diese Frage stellte sich schon vor fast zwei Wochen den Augenzeugen der Ereignisse.

Viel wird davon abhängen, ob es den bestehenden linken Strukturen in der Türkei, die lange Erfahrung auch im Umgang mit staatlicher Repression haben, gelingt, Zugang zu den jungen Aktivisten zu bekommen, die mit den Protesten das erste Mal in ihrem Leben politisch aktiv geworden sind. Am Kottbuser Tor in Berlin gibt es, wie in vielen Städten überall auf der Welt, seit mehr als zwei Wochen ein Zelt verschiedener linker Gruppen aus der Türkei, die sich solidarisch mit den Protesten zeigen. Wenn dort dann Schilder mit der Parole „Das Volk erwacht“ auftaucht, muss man zumindest feststellen, dass die Tatsache, dass es auch eine Pro-Erdogan-Fraktion in der türkischen Bevölkerung gibt, wohl nicht reflektiert wird.

Hoffnungen auf die EU?

Ein Teil der Ratlosigkeit besteht darin, dass nun Hoffnungen in die EU gesetzt werden. Sie solle die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aussetzen, fordern mittlerweile auch die Türkischen Gemeinden in Deutschland, die lange zu den Unterstützern einer Annäherung der Türkei an die EU gehörten. Damit rennen sie bei den Unionsparteien offene Türen ein, die das abendländische Europa nie mit der Türkei verbinden wollten.

Allerdings sind solche Forderungen aus der Defensive vielleicht verständlich, aber recht wirkungslos. Denn Erdogan hat selbst kein besonderes Interesse an einer schnellen EU-Mitgliedschaft, wie auch seine Reaktionen auf Ermahnungen aus Brüssel in den letzten Tagen zeigten. Wenn er nun anderen EU-Ländern den Spiegel vorhält und erklärt, auch die seien mit Protestierenden nicht wesentlich anders umgegangen, hat er nun mal recht.

Der Einsatz von Tränengas gegen die Empörten im Zentrum von Athen vor zwei Jahren war nicht wesentlich sanfter als am Taksimplatz. Warum sich die Gruppen, die die EU adressieren nicht einfach auf die Forderung beschränken, die Abschiebung von türkischen und kurdischen Flüchtlingen in die Türkei müsse sofort ausgesetzt werden und die Justiz der europäischen Länder müsse sofort die Kooperation mit ihren türkischen Kollegen beenden, ist nicht klar.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/154469
Peter Nowak