Anfang vom Ende der Ära Erdogan?


Nach mehreren Tagen der Proteste in der Türkei stellt sich die Frage, welche innenpolitischen Folgen sie haben werden

Dass der Kampf um die Rettung eines Parks im Zentrum Istanbuls zu einer türkeiweiten Protestwelle mit zahlreichen Verletzten und Toten führen konnte, mag auf den ersten Blick überraschend sein. Schließlich schien der türkische Ministerpräsident nicht nur in seinem Land unangefochten, er gerierte sich gar als Globalplayer, der vor den Kameras der Welt gegen die israelische Politik wetterte und sich zum Verbündeten der arabischen Straße aufschwang. Besonders die Umbrüche in der arabischen Welt, vor allem die Machtübernahme der Moslembrüder in Ägypten, schienen Erdogans Plänen entgegenzukommen.

Doch auf den zweiten Blick ist die Protestwelle so überraschend nicht. Es mag verlockend sein, sie mit Begriffen wie „türkischer Sommer“ oder „Istanbul resist“ in einem globalen Kontext zu verorten, entweder als Fortsetzung der arabischen Aufstände oder als spätes Echo auf die Bewegung der Empörten. Damit werden aber die spezifischen Ursachen, die in der jüngeren Geschichte der Türkei und dem Aufstieg der AKP zu suchen sind, vernachlässigt.

Vom islamischen Outsider zur Staatspartei

Zunächst ist festzustellen, dass in der Türkei im letzten Jahrzehnt ein Elitenwechsel stattgefunden hat, wie er in diesem Umfang selten ist. Die jahrzehntelang dominierende säkulare kemalistische Elite aus den Städten wurde von einer aufstrebenden islamisch geprägten Bourgeoisie abgelöst. Die Stellung von Erdogan und seiner AKP zeigt den Wandel. Noch vor wenigen Jahren musste sie befürchten, von den kemalistischen Militärs entmachtet und verboten zu werden.

Erdogan konnte sogar anfangs selbst kein politisches Amt übernehmen, weil er als Bürgermeister von Istanbul wegen islamistischer Propaganda zu einer Haftstrafe verurteilt worden war. Mittlerweile ist ein Großteil der Militärs und mit ihnen viele Regierungskritiker selbst mit politischen Verfahren konfrontiert, viele sind in Haft. Dieser Elitenwechsel ging so reibungslos vonstatten, weil die AKP die Partei des neoliberalen Umbaus in der Türkei wurde. Der Wirtschaftsaufschwung, der vor allem auf Kapitaltransfer aus der arabischen Welt basiert, verschaffte der AKP bei Wahlen viel Zustimmung. Doch zivilgesellschaftliche Kräfte, die Erdogan in der Anfangsphase im Kampf gegen die kemalistischen Militärs noch unterstützten, haben sich längst von ihm abgewandt.

Die Repression der Kemalisten, die sich vor allem gegen die kurdische Bewegung und verschiedene Fraktionen der Linken richtete, wurde übernommen und mit einem islamistischen Etikett versehen. Es sind längst nicht nur die kemalistischen Eliten, die heute in der Türkei verfolgt wurden Die Massenrepression gegen kritische Gewerkschafter, die monatelang im Gefängnis gesessen haben, sowie der Polizeieinsatz gegen eine Gewerkschaftsdemonstration am 1. Mai in Istanbul, macht deutlich, dass sich die Objekte der Verfolgung im Übergang von der kemalistischen zur islamistischen Elite kaum verändert haben.

In den aktuellen Protesten findet sich auch viel aufgestaute Wut über nicht eingehaltene Demokratieversprechen gepaart mit zunehmender islamischer Gängelung wieder. Deshalb haben sich Gewerkschaften wie die KESK und verschiedene linke Gruppen den Protesten angeschlossen.

Erdogans Niederlage im Syrienkonflikt

Neben der zunehmenden innenpolitischen Enttäuschung hat sich die türkische Regierung auch im Syrien-Konflikt eine Niederlage eingehandelt. Die vor allem von Erdogan lange geäußerten Hoffnungen, das Assad-Regime werde in kurzer Zeit gestürzt sein, haben sich nicht erfüllt. Stattdessen haben die innersyrischen Konflikte auch längst die Türkei erreicht, wie es spätestens der Bombenanschlag in Reyhanli deutlich wurde. Die wiederholten Versuche der Erdogan-Regierung, die Nato auf Seiten der Türkei in dem Konflikt zu positionieren, haben bisher auch nicht die erwünschte Wirkung gezeigt.

So ist erstmals auch die außenpolitische Orientierung der Regierung in der Türkei heftig umstritten. In dieser Situation melden sich auch die von der AKP gedemütigten Kemalisten wieder zu Wort. Wenn Erdogan sich nun als türkisch-kurdischer Brückenbauer profilieren will und der kurdischen Nationalbewegung Zugeständnisse macht, gehen auch diverse nationalistische Gruppen in der Türkei auf Distanz. Dass er deswegen in der kurdischen Bewegung nicht unbedingt Vertrauen gewinnt, wird klar, wenn man weiß, dass Erdogan bis heute das Massaker an 34 unbewaffneten Bauern an der türkischen Ostgrenze verteidigt.

Sie waren als angebliche kurdische Guerilleras von Kampfjets getötet worden. So hat sich in den letzten Monaten in unterschiedlichen politischen und kulturellen Spektren der Türkei große Wut auf die Regierung angestaut, die nun in dem aktuellen Widerstand zum Ausdruck kommt. Dass erklärt auch die Heterogenität der Proteste, die nur dann zu einer realen Gefahr für die türkische Regierung werden könnten, wenn sie für große Massen nachvollziehbaren Lösungen finden könnte.

Aufstand der Weißen?

In welche Richtung eine solche Losung gehen könnte, hat der Taz-Kommentator Deniz Yücel kürzlich deutlich gemacht:

„Es ist das Aufbegehren der ‚weißen Türken‘, des wohlhabenden, gebildeten und urbanen Milieus, dem die regierende AKP als Vertreterin der ’schwarzen Türken‘ gegenübersteht, also den Kleinbürgern, Armen und Zugewanderten der Metropolen, die Erdogan repräsentiert und deren derbe Sprache er spricht, plus der Bevölkerung der Provinz, inklusive der anatolischen Bourgeoisie, deren Mann Staatspräsident Abdullah Gül ist. Diese Gruppen waren lange Zeit von der Teilhabe ausgeschlossen.“

Hier könnte die entmachtete kemalistische Elite die aktuellen innen-und außenpolitischen Schwächen der Erdogan-Regierung ausnutzen, um als Sprachrohr dieser „weißen Türken“ die alten Privilegien zurückzuholen versuchen. Ein solcher Machtkampf der Eliten hätte mit einem Kampf für eine grundlegende Demokratisierung und soziale Reformen natürlich wenig zu tun. Das ist allerdings die Motivation einer Solidaritätsbewegung, die sich in vielen Ländern mit der türkischen Zivilgesellschaft solidarisch erklärt. Wie in Ägypten, Tunesien und vielen anderen Ländern sind es auch in der Türkei kleine zivilgesellschaftliche, gewerkschaftliche und linke Gruppen, die solche emanzipatorischen Vorstellungen verfolgen. Dass sie eine realistische Chance haben, ihre Vorstellungen umzusetzen, würde zumindest eine Kooperation unter diesen Gruppen voraussetzen.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/154387
Peter Nowak