Wer Erdogan als Diktator kritisiert, kann den Putschisten Al-Sisi trotzdem loben

Sigmar Gabriel in Ägypten: „Ich finde, Sie haben einen beeindruckenden Präsidenten“

„Ich finde, Sie haben einen beeindruckenden Präsidenten“. Diesen Satz wird Bundeskanzlerin Merkel bei ihrer Türkei-Visite wohl kaum auf dessen Präsidenten Erdogan gemünzt äußern. Doch Vizekanzler und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel, der  mit einer großen Wirtschaftsdelegation  in Ägypten weilte[1] , ließ sich die Phrase vom beeindruckenden ägyptischen Präsidenten entlocken.

Dass al-Sisi gegen eine demokratisch gewählte Regierung putschte, hat Gabriel wie ein großer Teil der sogenannten westlichen Welt dem Präsidenten nie übelgenommen. Schließlich war es eine Regierung der Moslembrüder, und da werden schon mal beide Augen zugedrückt, wenn dann demokratische Grundrechte beseitigt werden. Dass im Anschluss ein Massaker an größtenteils gewaltfrei demonstrierenden Gegnern des Putsches verübt wurde, ist ebenso vergessen wie die Massenfestnahmen von Oppositionellen jeglicher Couleur.

Unter al-Sisi ist Ägypten wesentlich repressiver als zu Zeiten von Sadat und Mubarak. Doch tote ägyptische Oppositionelle sind in der europäischen Öffentlichkeit kein Thema. Erst als ein italienischer Doktorand, der zur Geschichte der ägyptischen Gewerkschaftsbewegung arbeitete, vor einigen Wochen ermordet wurde, wurde in manchen Medien der ägyptische Staatsterror zum Thema. Gabriel blieb bei seinen Lob für al-Sisi ganz in der Tradition der deutschen Außenpolitik. Staatsterror und Diktatur waren nie ein Hinderungsgrund für ein gutes Verhältnis zu Deutschland.

Wichtig war, ob es ein Diktator ist, der die gemeinsamen Werte verteidigt oder nicht. Der Schah von Persien  gehörte lange Zeit zweifelsfrei zu den Diktatoren, die gemeinsame Werte  gemeinsam mit der Bonner Politik verteidigten. Daher war das Verhältnis zwischen deutschen und iranischen Politikern sehr innig.

So war es nur konsequent, dass auch satirische Kritik an den großen Freund von Westdeutschland unterbunden wurde. Ein Künstler wurde für eine  Karikatur  des iranischen Diktators Reza Pahlavi nach jahrelangem Prozess zu einer Geldstrafe verurteilt[2] Grundlage war übrigens der gleiche Paragraph 103, der nun beim Böhmermann-Erdogan-Konflikt plötzlich in die Schlagzeilen geraten ist.

Auch die argentinische Militärjunta stand in den 1970er Jahren auf Seiten des Westens und so sorgte auch der damalige Bundesaußenminister Genscher dafür, dass die Kritik an den verschwundenen Oppositionellen möglichst klein gehalten wird, selbst wenn sie wie im Fall von Elisabeth Käsmann[3] und Klaus Zieschank[4] deutsche Staatsbürger[5] waren.

„Er mag ein Schweinehund sein, aber er ist unser Schweinehund“

Für Politik und Justiz war damals klar, der Schah oder die lateinamerikanische  Generale  mögen keine großen  Freunde der Menschenrechte sein, aber sie standen  bedingungslos auf Seite des Wesens.  Da galt die in den USA gültige Devise. „Er ist ein Schweinehund sein, aber er  ist unser Schweinehund.“ Nach dieser Devise werden auch heute noch die Regenten in den verschiedenen Teilen der Welt sortiert. Deswegen ist das  Lob von Gabriel für den ägyptischen Diktator eigentlich Regierungsalltag.

Ungewöhnlich ist, dass er sich nun dafür rechtfertigen muss, weil die Erdogan-Debatte doch zeitlich so dicht dran liegt. Da fragen sich manche Journalisten, warum die SPD in der Erdogan-Debatte Merkel den Kotau vor einen Diktator vorgeworfen hat. Da wird dann schon mal angemerkt, dass im Vergleich zum ägyptischen Amtskollegen Erdogan noch als autoritärer Demokrat durchgehen kann.

Nur sagt niemand, warum hier scheinbar unterschiedlich gewichtet wird. Während der ägyptische Präsident,  wie einst der Schah[6],  sich nur mit Unterstützung aus dem Ausland an der Macht halten kann und die Unterstützung im Inland nur schwach ist, kann sich Erdogan auf eine eigene Machtbasis, die islamisch geprägte neue Bourgeoisie, in der Türkei stützen. Diese Machtbasis gibt ihm auch die Möglichkeit wesentlich unabhängiger gegenüber den  unterschiedlichen Akteuren im Ausland zu agieren.

So ist eben Erdogan kein Erfüllungsgehilfe von Deutschland oder anderer Staaten. Er und die hinter ihm stehenden Kräfte haben eine eigene politische Agenda, die sich in wesentlichen Punkten von den Interessen der EU und Deutschlands unterscheiden. Also kann er nicht als „unser Schweinehund“ gelten. Erdogan wurde vielmehr von verschiedenen europäischen Politikern bedeutet,  er solle die Migranten von der Festung Europas fernhalten und sich sonst gefälligst nicht in die Politik der EU-Staaten einmischen. Dass Erdogan sich in diese Rolle nicht fügen will, ist ein zentraler Grund für den Streit der letzten Tage.

Diktator oder Vorbild eines illiberalen Herrschers

Nun sind es nicht nur Politiker wie Gabriel, die hier in öffentliche Widersprüche geraten, wenn sie einmal lautstark die Meinungsfreiheit für Böhmermann verteidigen und im nächsten Moment den ägyptischen Diktator loben. Auch in rechten Kreisen weiß man nicht so recht, ob man Erdogan als islamistischen Diktator verdammen soll, der jetzt sogar noch in Deutschland mitbestimmen will, was erlaubt ist, oder ob man ihn nicht als Vorbild eines illiberalen Herrschers eigentlich loben müsste.

Wäre Erdogan kein Moslem, würde er sicher auch bei der AfD und Pegida als großes Vorbild hingestellt wie Putin und der ungarischen Ministerpräsidenten  Orban. Denn auch in Erdogans Herrschaftsbereich gilt, was man an Russland und Ungarn in rechten Kreisen so lobt.  Dort gilt noch die traditionelle Geschlechterordnung, Kinder und Jugendliche haben zu gehorchen und vor den Obrigkeiten hat man Respekt zu zeigen. Dass auch auf religiöse Zucht und Ordnung geachtet wird, ist den Rechten auch sehr angenehm.

Nur  vertritt Erdogan eben eine Religion, die die Rechten zum Feindbild erkoren haben und so müssen sie ihn nach außen zumindest verdammen. Doch der von Taz lancierte Aprilscherz, dass die AfD Erdogan nach Berlin  zur Wahlkampfunterstützung  einlädt[7], wurde zunächst in rechten  Kreisen durchaus ernst genommen und stieß auch nicht gleich auf Ablehnung.

Zudem  müssen die Rechten nun mit einem  Böhmermann fremdeln, der für sie als liberaler Kunst für vieles steht, was sie hassen.  Der neurechte Publizist Jürgen Elsässer hat das rechte Dilemma  im Streit Böhmermann/Erdogan benannt:

Politisch gesehen sind mir Böhmermann und Erdogan fast gleich unsympathisch. Der eine ist Arsch, der andere ist ärscher. Aber ich werde den Teufel tun, mich über ihr Gemächt oder ihre sexuellen Vorlieben auszulassen, und würde Genderboy Böhmermann dringend empfehlen, nicht aus dem Glashaus heraus mit Steinen zu werfen.

Dass Elsässer und Erdogan den gleichen Anwalt haben und der auch den Holocaustleugner David Irving[8] verteidigt hat, hat seinen Grund eben nicht einfach darin, dass es ein bekannter Anwalt ist. Es gibt linke und rechte Szeneanwälte.

So kann auch an einem Detail wie der Anwaltswahl manchmal besser als in der  Polemik im  politischen Alltagsgeschäft deutlich werden,  welche politischen Kräfte eigentlich mehr miteinander zu tun haben, als es auf den ersten Blick scheint.

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48016/1.html

Anhang

Links

[1]

http://www.bmwi.de/DE/Presse/pressemitteilungen,did=763414.html

[2]

http://www.taz.de/!5295982/

[3]

http://www.welt.de/politik/deutschland/article128745445/Warum-rettete-Genscher-deutsche-Studentin-nicht.html

[4]

https://www.jungewelt.de/2016/03-24/050.php

[5]

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/die-bravouroese-ard-dokumentation-das-maedchen-12972669.html

[6]

http://www.heise.de/tp/news/Ist-Al-Sisi-der-Schah-2015-2678765.html

[7]

http://www.taz.de/fileadmin/static/pdf/Rada_VonStorchhofftaufKalifen.pdf

[8]

http://www.spiegel.de/thema/david_irving/(http://www.spiegel.de/thema/david_irving/

Wenn Journalisten eine terroristische Zelle werden

Wie lange kann sich Erdogan noch halten?

Ende der Toleranz am Taksimplatz?

Auch wenn sich das Erdogan-Regime mit Gewalt weiter an der Macht halten kann, die Proteste haben das System getroffen

Die Bilder, die in diesen Stunden aus dem Zentrum von Istanbul übermittelt werden, erinnern an ein Land im Bürgerkrieg. Auch nachdem am Dienstagmorgen eine riesige Polizeiarmada den Taksimplatz geräumt hat, ist nicht die von der Regierung gefordert Ruhe eingekehrt. Im Gegenteil, die gespannte Ruhe der letzten Tage ist in offenen Widerstand umgeschlagen.

So wehrten sich die Besetzer des Taksimplatz mit Barrikaden gegen die anrückende Polizei. Die Besetzer des angrenzenden Gezi-Parkes, von dem die Proteste in der Türkei ausgingen, hatten sich sogleich von der militanten Verteidigung distanziert. Was wie eine Spaltung der Protestbewegung aussieht, kann aber mit den unterschiedlichen Protestmilieus erklärt werden.

Junge empörte Mittelschicht und alte Linke

Bei dem Kern Parkbesetzern handelt es sich um eine urbane, gut vernetzte junge Mittelschicht, die sich gegen das autoritäre, religiös verbrämte Tugendregime der AKP wehrt, aber auch in großer Distanz zu allen Parteien und den traditionellen linken Organisationen steht. Bei den Verteidigern des Taksimplatzes hingegen waren im Kern Aktivisten der verschiedenen linken Organisationen aktiv gewesen, die durch die Ereignisse rund um den Park wieder einmal gemeinsam agieren. Die Ereignisse der letzten Tage zeigte, dass diese Linke noch immer ein Faktor ist, weil sie organisiert handelt und Kampferfahrungen teilweise noch aus den Zeiten der Militärdiktatur hat. Welche Bedeutung sie aber innerhalb der heterogenen Protestbewegung haben wird, ist völlig unklar und hängt auch vom Verhalten der Regierung ab.

Schließlich hätte diese, nachdem sich die Parkbesetzer von der militanten Verteidigung des Taksim-Platzes distanziert hatten, die Spaltungslinien zwischen den jungen Empörten und den alten Linken vertiefen können. Doch Erdogan und die Hardliner in der Regierung setzten auf die Zerschlagung der gesamten Bewegung. Damit aber könnte sie manche der jungen Empörten in die Arme der Linken treiben, die schließlich auch praktisch gezeigt hat, dass man der Polizei nicht wehrlos gegenüber stehen muss.

Erdogan mit dem Rücken zur Wand?

Es muss schon überraschen, dass ein Regierungschef, der es über ein Jahrzehnt verstanden hat, eine Hegemonie in der türkischen Gesellschaft durchzusetzen und damit die alten kemalistischen Eliten entmachtete, angesichts der jüngsten Proteste reagiert wie all die autoritären Staatschefs im Nahen Osten, die für jeden Widerstand gegen ihre Herrschaft Terroristen und Provokateure verantwortlich machen und die Schuld dem Ausland, vorzugsweise Israel, geben. Genau so reagierte Erdogan in den letzten Tagen.
Wenn er nach der Rückkehr von einer kurzen Auslandsreise das Ende der Toleranz ankündigte, obwohl es doch schon die gesamte Zeit eine massive Polizeirepression gegen die Proteste gegeben hat, wird auch deutlich, dass Erdogan nicht aus einer Position der Stärke agiert. Ob er aber mit dem Rücken zur Wand steht, ist noch nicht ausgemacht. Doch selbst wenn er einstweilen an der Macht bleibt, haben seine Pläne für einen Umbau der Türkei in ein autoritäres Präsidialregime unter seiner Führung einen Rückschlag erlitten.

Es war kein Geheimnis, dass Erdogan selber dieses Amt besetzen wolle und mit Unterstützung der kurdischen Bewegung eine Verfassungsänderung umsetzen wollte, die auch einen Machtzuwachs für den Präsidenten festschreiben sollte. Der ebenfalls der AKP angehörende gegenwärtige Präsident Gül hat zu diesen Plänen geschwiegen und offen gelassen, ob er das Amt nicht behalten will. Nach den Ereignissen der letzten Wochen ist die Unterstützung für die Verfassungsänderung nicht sehr wahrscheinlich und Gül hatte in den letzten Tagen signalisiert, dass er gegen den Protestierenden eine flexiblere Haltung einnehmen könnte und die Spaltungslinien zwischen den unterschiedlichen Protestmilieus besser auszunutzen wollte.

Wie Gül haben sich auch einige AKP-Politiker aus der zweiten Reihe vorsichtig von der offen repressiven Linie distanziert. Erdogan hat nach seiner Rückkehr deutlich gemacht, dass er unveränderlich zu dieser Linie steht. Sollten sich damit die Proteste nicht eindämmen lassen und die Zahl der Demonstranten sogar noch wachsen, könnte es zu einem Machtkampf innerhalb der AKP kommen.

Um ein solches Szenario zu verhindern, soll jetzt auch die AKP-Basis überall in der Türkei auf die Straße gehen. Selbst Neuwahlen sind im Gespräch, damit die AKP gestärkt durch ein gutes Wahlergebnis die Opposition scheinbar demokratisch legitimiert zerschlagen kann. Denn, trotz der Massenproteste, hat die Erdogan-Linie in der Türkei durchaus noch Unterstützung. Die innenpolitische Zuspitzung könnte auch dazu führen, dass sich die konservativ-islamistische Bevölkerung noch mehr um die Regierung schart und so die innenpolitische Spaltung vertieft.

Zusammenarbeit mit der türkischen Regierung aufkündigen?

Auch außenpolitisch wird sich das Regime als Stabilitätsfaktor verkaufen und davor warnen, dass neben zahlreichen Nachbarländern auch die Türkei destabilisiert werden könnte. Ein Analyst hat in der Jüdischen Allgemeine die Situation im Nahen Osten mit der Situation in Europa zur Zeit des 30jährigen Krieges verglichen. Die gegenwärtige Regierung wird versuchen, sich als Garant der Stabilität darzustellen. Seit die Unruhen begonnen haben, wird wieder verstärkt über die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU diskutiert.

Betätigten sich schon bisher deutsche Konservative als Bremser einer Annäherung, so fordert jetzt auch die Bundestagsabgeordnete der Linken, Sevrim Dagdelen, eine Aussetzung der EU-Verhandlungen und vor allem der Zusammenarbeit mit der Erdogan-Regierung. Dabei muss man sich aber fragen, ob eine solche Haltung nicht auch Illusionen in die EU als Instanz schürt, die angeblich für eine zivile Austragung von Konflikten steht.

Doch wurden nicht vor 12 Jahren im EU-Land Italien Globalisierungskritiker ebenso massiv mit Wasserwerfen und Tränengas bekämpft und anschließend kriminalisiert? Ist es nicht erst zwei Jahre her, dass die Bewegung der Empörten in der Innenstadt von Athen unter massiver Tränengasanwendung zerschlagen wurde und damit mit der Weg freigemacht, dass die EU-Troika ihr für die Mehrheit der Menschen in Griechenland desaströse Austeritätspolitik umsetzen konnte?

Zudem hat in der Türkei die Massenfestnahme von Gewerkschaftern im letzten Jahr bei der EU keine Reaktionen ausgelöst. Und während die Proteste schon längst im Gange waren, wurde der türkische Linke Bulut Yayla in einer Nacht- und Nebelaktion aus Griechenland verschleppt und der türkischen Justiz übergeben.

Peter Nowak

Anfang vom Ende der Ära Erdogan?


Nach mehreren Tagen der Proteste in der Türkei stellt sich die Frage, welche innenpolitischen Folgen sie haben werden

Dass der Kampf um die Rettung eines Parks im Zentrum Istanbuls zu einer türkeiweiten Protestwelle mit zahlreichen Verletzten und Toten führen konnte, mag auf den ersten Blick überraschend sein. Schließlich schien der türkische Ministerpräsident nicht nur in seinem Land unangefochten, er gerierte sich gar als Globalplayer, der vor den Kameras der Welt gegen die israelische Politik wetterte und sich zum Verbündeten der arabischen Straße aufschwang. Besonders die Umbrüche in der arabischen Welt, vor allem die Machtübernahme der Moslembrüder in Ägypten, schienen Erdogans Plänen entgegenzukommen.

Doch auf den zweiten Blick ist die Protestwelle so überraschend nicht. Es mag verlockend sein, sie mit Begriffen wie „türkischer Sommer“ oder „Istanbul resist“ in einem globalen Kontext zu verorten, entweder als Fortsetzung der arabischen Aufstände oder als spätes Echo auf die Bewegung der Empörten. Damit werden aber die spezifischen Ursachen, die in der jüngeren Geschichte der Türkei und dem Aufstieg der AKP zu suchen sind, vernachlässigt.

Vom islamischen Outsider zur Staatspartei

Zunächst ist festzustellen, dass in der Türkei im letzten Jahrzehnt ein Elitenwechsel stattgefunden hat, wie er in diesem Umfang selten ist. Die jahrzehntelang dominierende säkulare kemalistische Elite aus den Städten wurde von einer aufstrebenden islamisch geprägten Bourgeoisie abgelöst. Die Stellung von Erdogan und seiner AKP zeigt den Wandel. Noch vor wenigen Jahren musste sie befürchten, von den kemalistischen Militärs entmachtet und verboten zu werden.

Erdogan konnte sogar anfangs selbst kein politisches Amt übernehmen, weil er als Bürgermeister von Istanbul wegen islamistischer Propaganda zu einer Haftstrafe verurteilt worden war. Mittlerweile ist ein Großteil der Militärs und mit ihnen viele Regierungskritiker selbst mit politischen Verfahren konfrontiert, viele sind in Haft. Dieser Elitenwechsel ging so reibungslos vonstatten, weil die AKP die Partei des neoliberalen Umbaus in der Türkei wurde. Der Wirtschaftsaufschwung, der vor allem auf Kapitaltransfer aus der arabischen Welt basiert, verschaffte der AKP bei Wahlen viel Zustimmung. Doch zivilgesellschaftliche Kräfte, die Erdogan in der Anfangsphase im Kampf gegen die kemalistischen Militärs noch unterstützten, haben sich längst von ihm abgewandt.

Die Repression der Kemalisten, die sich vor allem gegen die kurdische Bewegung und verschiedene Fraktionen der Linken richtete, wurde übernommen und mit einem islamistischen Etikett versehen. Es sind längst nicht nur die kemalistischen Eliten, die heute in der Türkei verfolgt wurden Die Massenrepression gegen kritische Gewerkschafter, die monatelang im Gefängnis gesessen haben, sowie der Polizeieinsatz gegen eine Gewerkschaftsdemonstration am 1. Mai in Istanbul, macht deutlich, dass sich die Objekte der Verfolgung im Übergang von der kemalistischen zur islamistischen Elite kaum verändert haben.

In den aktuellen Protesten findet sich auch viel aufgestaute Wut über nicht eingehaltene Demokratieversprechen gepaart mit zunehmender islamischer Gängelung wieder. Deshalb haben sich Gewerkschaften wie die KESK und verschiedene linke Gruppen den Protesten angeschlossen.

Erdogans Niederlage im Syrienkonflikt

Neben der zunehmenden innenpolitischen Enttäuschung hat sich die türkische Regierung auch im Syrien-Konflikt eine Niederlage eingehandelt. Die vor allem von Erdogan lange geäußerten Hoffnungen, das Assad-Regime werde in kurzer Zeit gestürzt sein, haben sich nicht erfüllt. Stattdessen haben die innersyrischen Konflikte auch längst die Türkei erreicht, wie es spätestens der Bombenanschlag in Reyhanli deutlich wurde. Die wiederholten Versuche der Erdogan-Regierung, die Nato auf Seiten der Türkei in dem Konflikt zu positionieren, haben bisher auch nicht die erwünschte Wirkung gezeigt.

So ist erstmals auch die außenpolitische Orientierung der Regierung in der Türkei heftig umstritten. In dieser Situation melden sich auch die von der AKP gedemütigten Kemalisten wieder zu Wort. Wenn Erdogan sich nun als türkisch-kurdischer Brückenbauer profilieren will und der kurdischen Nationalbewegung Zugeständnisse macht, gehen auch diverse nationalistische Gruppen in der Türkei auf Distanz. Dass er deswegen in der kurdischen Bewegung nicht unbedingt Vertrauen gewinnt, wird klar, wenn man weiß, dass Erdogan bis heute das Massaker an 34 unbewaffneten Bauern an der türkischen Ostgrenze verteidigt.

Sie waren als angebliche kurdische Guerilleras von Kampfjets getötet worden. So hat sich in den letzten Monaten in unterschiedlichen politischen und kulturellen Spektren der Türkei große Wut auf die Regierung angestaut, die nun in dem aktuellen Widerstand zum Ausdruck kommt. Dass erklärt auch die Heterogenität der Proteste, die nur dann zu einer realen Gefahr für die türkische Regierung werden könnten, wenn sie für große Massen nachvollziehbaren Lösungen finden könnte.

Aufstand der Weißen?

In welche Richtung eine solche Losung gehen könnte, hat der Taz-Kommentator Deniz Yücel kürzlich deutlich gemacht:

„Es ist das Aufbegehren der ‚weißen Türken‘, des wohlhabenden, gebildeten und urbanen Milieus, dem die regierende AKP als Vertreterin der ’schwarzen Türken‘ gegenübersteht, also den Kleinbürgern, Armen und Zugewanderten der Metropolen, die Erdogan repräsentiert und deren derbe Sprache er spricht, plus der Bevölkerung der Provinz, inklusive der anatolischen Bourgeoisie, deren Mann Staatspräsident Abdullah Gül ist. Diese Gruppen waren lange Zeit von der Teilhabe ausgeschlossen.“

Hier könnte die entmachtete kemalistische Elite die aktuellen innen-und außenpolitischen Schwächen der Erdogan-Regierung ausnutzen, um als Sprachrohr dieser „weißen Türken“ die alten Privilegien zurückzuholen versuchen. Ein solcher Machtkampf der Eliten hätte mit einem Kampf für eine grundlegende Demokratisierung und soziale Reformen natürlich wenig zu tun. Das ist allerdings die Motivation einer Solidaritätsbewegung, die sich in vielen Ländern mit der türkischen Zivilgesellschaft solidarisch erklärt. Wie in Ägypten, Tunesien und vielen anderen Ländern sind es auch in der Türkei kleine zivilgesellschaftliche, gewerkschaftliche und linke Gruppen, die solche emanzipatorischen Vorstellungen verfolgen. Dass sie eine realistische Chance haben, ihre Vorstellungen umzusetzen, würde zumindest eine Kooperation unter diesen Gruppen voraussetzen.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/154387
Peter Nowak

Integration ja – Assimilation nein

Erneut sorgt der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan bei seinem Besuch in Deutschland für Aufregung

Der türkische Politiker rief am vergangenen Samstag auf einer von 10.000 Menschen mit türkischem Migrationshintergrund bejubelten Rede seine Zuhörer dazu auf, sich in Deutschland zu integrieren, aber nicht zu assimilieren. Dabei sparte er nicht mit nationalistischem Pathos. So erklärte der türkische Ministerpräsident:

„Niemand wird in der Lage sein, uns von unserer Kultur loszureißen. Unsere Kinder müssen Deutsch lernen, aber sie müssen erst Türkisch lernen.“

Dass er damit die Menschen mit türkischem Hintergrund als ein nationales Kollektiv betrachtet, für das er zu sprechen vorgibt, wäre in der Tat kritikwürdig. Diese Anmaßung wird auch von den vielen Betroffenen, die schon selber entscheiden wollen, welche Sprache sie und ihre Kinder lernen wollen, mit Recht zurückgewiesen.

Vorhersehbare Aufregung

Doch die Reaktionen in der politischen Klasse waren so vorhersehbar, wie auf Wählerstimmen schielend. Auf rechten Webseiten wird Erdogan wieder einmal als gefährlicher Islamist dargestellt, der mit Hilfe der türkischen Diaspora Einfluss auf Europa gewinnen will. Dabei sind auch sie gegen die Assimilitation von türkischen Menschen in Deutschland.

In diesen Kreisen stößt natürlich besonders sauer auf, dass Erdogan vor wachsenden Rassismus in Deutschland warnte. Nur wenig moderater ist die Erdogan-Kritik bei den politischen Parteien. Die CSU wirft ihm Aufwiegelung und Gefährdung der Integrationsbemühungen vor, für die sich Erdogan nun gerade stark gemacht hat. Auch der integrationspolitische Sprecher der FDP erklärte Erdogans Rede für abwegig.

Die Debatte erinnert an die Reaktionen auf eine Erdogans mit ähnlichen Inhalt im Jahr 2008 in Köln (siehe Integration oder Assimilation?). Im letzten Jahr sorgte der türkische Politiker mit seiner Forderung nach türkischen Schulen in Deutschland für Aufregung.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/149359
 
Peter Nowak