Immobilien und andere Immobilitäten

Die Kritik an der Gentrifizierung sollte mit der Kritik der Verkehrspolitik verbunden werden, nicht nur aus Gründen des Umweltschutzes.

Hat die Gentrifizierungskritik in Berlin jetzt auch die CDU und die Boulevardmedien erreicht? Diesen Eindruck konnte man angesichts der ganz großen Volksfront der Berliner Mauerretter bekommen, die Anfang März auf den Plan getreten war. Für ein Bauprojekt am Spreeufer sollten einige bemalte Mauerstücke versetzt werden, die in den Reiseführern als East Side Gallery firmieren. Die Boulevardzeitungen sahen eine neue »Mauerschande« heraufziehen und der Generalsekretär der Berliner CDU, Kai Wegner, legte die Platte aus alten Frontstadtzeiten wieder auf. Während er tönte: »Nur ein zusammenhängendes Mauerstück verdeutlicht authentisch, wie brutal der Todesstreifen Berlin einst zerschnitten hat«, lieferte »Mediaspree Versenken« die passende Kampa­gnenlosung: »Keine Luxuswohnungen auf dem ehemaligen Todesstreifen!« Ein Sprecher dieser als links geltenden Stadtteilinitiative wollte sich sogar schämen, ein Berliner zu sein, wenn die Mauerstücke einige Meter verrückt würden. Vor zwei Jahrzehnten nahmen Linke und Alternative noch mit Stolz das Label »Anti-Berliner« an, das ihnen die Lokalmedien und die Regierungsparteien aller Couleur angeheftet hatten.

Damals errichteten die frühen Gentrifizierungskritiker, die sich noch gar nicht als solche verstanden, unter der Parole »Oberbaumbrücke bleibt Stadtringlücke« mitten auf der Brücke ein Hüttendorf. Sie wollten verhindern, dass die bis dahin von der Mauer zerteilte Brücke zu einer vierspurigen Autostraße ausgebaut wird und sich folglich rund um die Uhr eine Blechlawine durch Kreuzberg wälzt. Die damalige Entwicklung von grünbepflanzten Mauernischen zu innerstädtischen Verkehrsinseln hat den schnellen Widerstand sicher sehr befördert. Bereits im Sommer 1990 gründeten Bewohner der benachbarten Schlesischen Straße die »BI Blechlawine« und organisierten Protestfrühstücke auf der Fahrbahn. Als dann die Ausbaupläne immer konkreter wurden, entwickelte sich ein Widerstand, an dem sich viele Umweltverbände wie BUND, Robin Wood Liga, ADFC, Grüne Radler, Stadtteilgremien von Alternativer Liste und PDS und zuletzt Basisgruppen wie WBA Prenzlauer Berg und die RADikalen, wie sich autonome Fahrradfahrer nannten, beteiligten. So unterschiedlich wie die am Bündnis beteiligten Gruppen waren auch die Aktionsformen. Während sich die einen mehr auf symbolische Proteste konzentrierten, wurde auch schon mal ein Bagger beschädigt und ein Bauschiff in der Spree versenkt. Zur Spaltung kam es deshalb aber nicht. Erst 1994, als die Oberbaumbrücke eröffnet wurde, versandete der Widerstand. Sollten Veranstaltungen zum 20. Jubiläum geplant sein, wäre es wünschenswert, dass nicht nur nostalgische Erinnerungsveranstaltungen angeboten würden – nach dem Motto: »die autonomen Großeltern erzählen«.

Denn Anfang der neunziger Jahre wurde von den Kritikern der Stadtentwicklung noch ein Zusammenhang zur Verkehrspolitik hergestellt, den man in der gegenwärtigen Gentrifizierungskritik vergeblich sucht. Diese Leerstelle ist schon deshalb verwunderlich, weil die in den vergangenen Jahren intensivierte Umweltdebatte eigentlich eine radikale Kritik der Autogesellschaft herausfordern würde. Dabei geht es nicht nur um das Ozonloch und den Klimawandel. Der Autoverkehr ist wesentlich für eine akute Luftverschmutzung verantwortlich, die extrem gesundheitsschädlich ist. Am 20. Februar stellte die EU-Kommission fest, dass die Luftbelastung in vielen deutschen Städten erheblich ist, so dass die lokalen Behörden aufgefordert wurden, unverzüglich Gegenmaßnahmen zu ergreifen, um die Stickoxid-Werte zu reduzieren.

Es ist schon auffallend, dass in einem Land, in dem selbst die Lagerung von leicht kontaminierter Molke in den neunziger Jahren einen Sturm der Empörung auslöste, kein wahrnehmbarer Widerstand gegen eine Verkehrspolitik entsteht, die nachweislich für schwere gesundheitliche Schäden bei vielen Menschen sorgt. Selbst die Steilvorlagen, die die EU-Behörden hierfür liefern, wurden weitgehend ignoriert. Nur in wenigen Zeitungen wurde überhaupt darüber berichtet. Dabei war es nicht das erste Mal, dass die EU-Kommission die deutsche Regierung wegen der Verletzung der Feinstaubverordnung kritisierte und Untersuchungen anordnete.

An mangelnden Informationen kann das Desinteresse an diesem Thema nicht liegen. Mittlerweile belegen zahlreiche wissenschaftliche Studien, dass in besonders von Feinstaub belasteten Gegenden das Krebsrisiko ebenso wie die Gefahr von Herzkreislaufkrankheiten steigt. Die Giftpartikel machen praktisch 82 Millionen Menschen zu »Passivrauchern«, warnen Umweltexperten. Doch während eine starke Nichtraucherlobby am liebsten noch aus jedem historischen Film die Glimmstängel nachträglich wegretuschieren würde und die Hellenische Gemeinde in Berlin-Steglitz um ihre finanzielle Unterstützung fürchten muss, weil das Rauchverbot in ihren Räumen nicht strikt eingehalten worden sein soll, scheint sich kaum jemand darüber zu empören, dass Autos die Luft verpesten. Dabei würde sich doch ein fast unbegrenztes Reservoir an Maßnahmen des zivilen Ungehorsams anbieten, um den Besitzern der vierrädrigen Dreckschleudern die Nutzung zumindest in den Innenstädten zu verleiden.

Die Raucher bekommen heute auf jeder Zigarettenpackung zu lesen, wie lebensgefährlich ihr Tun sei. In der Öffentlichkeit werden sie mit strafenden Blicken und Gesten bedacht, selbst wenn sie sich ganz gesetzeskonform in die ihnen zugewiesenen Reservate drängen. Die Autofahrer hingegen, die nicht nur für dicke Luft in den Städten sorgen, sondern auch den öffentlichen Straßenraum in Beschlag nehmen, bekommen von Politik und Öffentlichkeit grünes Licht. Das belegen die Ampelschaltungen an zahlreichen Verkehrsknotenpunkten deutscher Städte. Während Fußgänger und Radfahrer manchmal minutenlang in der Feinstaub- und Benzinwolke ausharren müssen, bis ihnen auch mal gnädig der Weg freigeschaltet wird, rauschen die Autos ungebremst vorbei.

In einem Land, in dem der ADAC 16 mal mehr Mitglieder hat als CDU, SPD, Linkspartei, Grüne und FDP zusammen, wird sich keine Partei, die in der Mitte der Gesellschaft Stimmen sammeln möchte, mit den Autofahrern anlegen. Für den Teil der Gentrifizierungskritiker, der nicht auf Parlaments- oder Beraterposten schielt, bestände hingegen in der Einbeziehung der Verkehrspolitik eine große Chance, verschiedene Teilbereiche miteinander zu verbinden. Dabei geht es neben den schon beschriebenen Umweltaspekten auch um die Frage, wie die Stadt der Zukunft aussehen soll. Sie zerfällt immer mehr in zwei getrennte Sektoren. Da gibt es die kinderfreundlichen, verkehrsberuhigten Stadtteile der Mittelschicht mit hohem Fahrradaufkommen. Die Anwohner haben meist dennoch irgendwo einen PKW geparkt, schließlich will man so flexibel wie möglich und nicht auf den unattraktiven ÖPNV angewiesen sein. Keine Wahl haben die einkommensschwachen Menschen, die an die Stadtränder verdrängt werden, wo es in der Regel keine Arbeitsplätze gibt. Überteuerte und überfüllte Bahnen und Busse sowie die alltägliche Blechlawine an den Ausfallstraßen sind die logischen Konsequenzen.

Für die wachsende Schar der ganz Armen bedeutet die Vertreibung aus den Citys oft auch ein Leben in den Schlafstädten, wo es statt Eckkneipen nur noch Stehimbisse gibt. Als Hartz-IV-Empfänger ist man zur Immobilität verdammt, obwohl doch gerade Mobilität und Flexibilität von Jobcentern immer mehr erwartet wird. Ein Blick in die Gefängnisse zeigt zudem, wohin es immer häufiger führt, wenn Menschen ihr Recht auf Mobilität wahrnehmen, ohne zu bezahlen. Ihr Anteil unter den Häftlingen wächst. In der JVA Berlin-Plötzensee sitzt fast jeder Dritte wegen Schwarzfahrens ein. Trotzdem erhalten Initiativen zur Entkriminalisierung der unentgeltlichen ÖPNV-Benutzung, wie sie im vorigen Jahr von der Berliner Piratenpartei gestartet wurden, wenig Unterstützung. Auch die aus dem Umfeld des ehemaligen Berliner Sozialforums initiierte Kampagne »Berlin fährt frei«, die für einen berlinweiten kostenlosen ÖPNV eintrat, versandete.
20 Jahre nach der Niederlage an der Oberbaumbrücke scheint die Verkehrspolitik in der außerparlamentarischen Linken kaum jemanden zu interessieren. Dabei läge in Berlin mit dem bevorstehenden Ausbau der Stadtautobahn A 100 ein kampagnenfähiges Thema im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße. Anfang März verhinderten 30 Umweltaktivisten das Fällen einiger Pappeln für dieses Straßenprojekt. In den kommenden Monaten wird sich zeigen, ob die Initiative größere Kreise ziehen kann. Garantiert wird man dafür kein Lob aus der Union und der Boulevardpresse bekommen. Dafür dürfte der alte Vorwurf an die »Anti-Berliner« dann wieder erhoben werden. Aber gerade das müsste für radikale Gentrifizierungsgegner eher ein zusätzlicher Ansporn sein.
http://jungle-world.com/artikel/2013/14/47441.html
Peter Nowak


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