Stuttgart 21 – Konflikt eskaliert

Hunderte von Verletzten wegen massiven Polizeieinsatzes, Wasserwerfer, Reizgas und Schlagstöcke wurden auch gegen Schüler eingesetzt
Monatelang wurde bundesweit ein neues Protestphänomen bestaunt. In Stuttgart wollte der [extern] Widerstand gegen das verkehrspolitische Projekt [extern] Stuttgart 21 nicht abreißen. Das ist die Kurzbezeichnung eines Verkehrs- und Städtebauprojekts zur Neuordnung des Eisenbahnknotens Stuttgart. Kernstück ist die Umwandlung des Stuttgarter Hauptbahnhofs in einen unterirdischen Durchgangsbahnhof. Die Zulaufstrecken werden in Tunnel verlegt. Zusätzlich sollen zwei weitere Bahnhöfe, ein neuer Abstellbahnhof und eine neue Stadtbahn-Station entstehen

Mit der offiziellen Entscheidung für die Umsetzung des Projekts begannen zahlreiche [extern] Protestaktionen. Seit November 2009 finden wöchentlich sogenannte Montagsdemonstrationen mit mehreren tausend Teilnehmern statt. Sie halten das Projekt für betriebsschädlich, nicht bahnkundenfreundlich, umweltbelastend und überteuert und bemängeln Eingriffe in Umwelt, Grundwasser, Denkmäler und privates Eigentum.

Die Aktionen blieben kein lokales Ereignis mehr, sondern wurden auch von Bewegungsforschern mit Interesse verfolgt. Denn es zeigte sich, dass das Projekt in Umfragen mehrheitlich abgelehnt wurde und auch Einfluss auf den Ausgang der Landratswahl in einigen Monaten haben kann. Den Grünen werden hohe Gewinne prognostiziert, manche sehen sie schon als Regierungspartei in spe.

In der letzten Zeit sollten Gegner und Befürworter verhandeln. Weil den Gegnern klar war, dass es nichts mehr zu reden gibt und der Abriss des Bahnhofs voranschreitet, war der Dialogversuch schnell beendet.

Seit dem 30. September ist die Zeit der Gespräche endgültig vorbei. An diesem Tag ging die Polizei mit Wasserwerfern, Reizgas, Schlagstöcken und Fausthieben auf Demonstranten vor, darunter auch auf Kinder. Mehrere hundert Demonstranten seien wegen Augenverletzungen behandelt worden, teilten die Projektgegner mit. Die Krankenhäuser in Stuttgart seien überlastet. Die Einsatzkräfte wollten damit Wege im Stuttgarter Schlossgarten räumen, die von einer Gruppe Demonstranten blockiert wurden. Dort sollen die ersten von insgesamt 300 teilweise Jahrzehnte alten Bäume für den Umbau des Hauptbahnhofes gefällt werden. Auch der Landtag wurde abgeriegelt.

Während die Oppositionsparteien im Stuttgarter Landtag die Polizeigewalt verurteilten, rechtfertigte Baden-Württembergs Innenminister Heribert Rech den massiven Polizeieinsatz. Die angemeldete Demonstration hätte nicht den erwarteten Verlauf genommen und sei in Gewalt ausgeartet. Zudem hätten die Demonstranten nicht mit der Polizei sprechen wollen.

Eskalation mit Ansage

Dabei kam für Beobachter der Protestbewegung die Zuspitzung nicht so überraschend. Nachdem wochenlang die Gegner des Projekts den Diskurs bestimmten und ein Baustop auch in konservativen Medien nicht mehr ausgeschlossen wurde, stellte sich Bundeskanzlerin Merkel im Bundestag eindeutig hinter das Projekt. Zunehmend wurde auch in der FAZ und anderen konservativen Zeitungen nach linken Hintermännern des Protests Ausschau gehalten, die vor allem in der Gruppe der [extern] Parkschützer ausgemacht wurden.

Gleichzeitig machte die Deutsche Bahn deutlich, dass sie einem Ausstieg des Landes Baden-Württemberg aus dem Milliardenprojekt nicht tatenlos zusehen werde. „Weil ein Ausstieg des Landes aus ‚Stuttgart 21‘ die Bahn eine Menge Geld kostet, könnten wir das gar nicht akzeptieren“, sagte DB-Vorstand Volker Kefer.

Die Maßnahmen sollen einen handlungsfähigen Staat demonstrieren, der sich nicht von der Straße unter Druck setzen lässt. Sie demonstrieren, wir regieren, lautete schon in den 80er Jahren die Devise gegen die Anti-Pershing-Bewegung. In den nächsten Wochen wird sich zeigen, ob dieses Kalkül in Stuttgart aufgeht. Auch ein anderes Szenario ist denkbar. Die Polizeiaktion und vor allem die Gewalt gegen Schulkinder haben für bundesweite Aufregung gesorgt und könnten den Protesten auch bundesweit noch mehr Auftrieb geben.

http://www.heise.de/tp/r4/artikel/33/33422/1.html

Peter Nowak


Schreibe einen Kommentar