Kanzler Scholz beschwört den Zusammenhalt. Er sieht die Gesellschaft geeint. Doch ist die vermeintliche Einigkeit wirklich erstrebenswert?

Olaf Scholz und die Illusion der Einigkeit: Warum wir mehr Spaltung der Gesellschaft brauchen

Man könnte polemisch behaupten, hier beschwört Scholz eine fast volksgemeinschaftliche Geschlossenheit der Gesellschaft herauf. Es wird gar nicht gefragt, ob es aus demokratietheoretischer Sicht überhaupt wünschenswert ist, dass es zu so wichtigen Fragen wie der Haltung zum Ukraine-Krieg oder zum Klimawandel nahezu keine kontroverse Diskussion gibt.

Knapp drei Minuten dauerte der jüngste Videobeitrag von Kanzler Olaf Scholz, in dem es den Anschein hatte, als hätte er die Aufgaben des Bundespräsidenten übernommen. Schließlich ist dieser für …

… Mahnungen und Moral verantwortlich. Dazu gehört auch das Schlagwort von der Spaltung der Gesellschaft.

Scholz trat nun an, um zu verkünden, dass es diese Spaltung gar nicht gibt. Gleich zu Beginn zählt er schlagwortartig einige Themen auf, über die in der Gesellschaft angeblich gestritten wird: „Klimawandel, Ukraine-Hilfen, Migration.

Gesellschaft angeblich gestritten wird: „Klimawandel, Ukraine-Hilfen, Migration.

Unser Land sei gespalten, höre ich oft,“ sagt Scholz, um dann zum Schluss zu kommen: „In vielen Gesprächen stelle ich aber fest: Die allermeisten von uns stehen in den großen Fragen näher beieinander, als es scheint.“ Dann erreicht er den rhetorischen Höhepunkt: „Uns eint viel mehr, als uns trennt. Ich will, dass das so bleibt.“

Demokratie benötigt Debatte

Man könnte polemisch behaupten, hier beschwört Scholz eine fast volksgemeinschaftliche Geschlossenheit der Gesellschaft herauf. Es wird gar nicht gefragt, ob es aus demokratietheoretischer Sicht überhaupt wünschenswert ist, dass es zu so wichtigen Fragen wie der Haltung zum Ukraine-Krieg oder zum Klimawandel nahezu keine kontroverse Diskussion gibt.

Wäre es nicht gerade besonders demokratisch, über diese und viele andere Fragen viel mehr und lauter zu streiten? Wäre nicht gerade mehr Auseinandersetzungsfreude statt Einigkeit gefordert?

Wir leben in einer gespaltenen Gesellschaft

Schon das Lamento über eine angeblich so gespaltene Gesellschaft sollte zurückgewiesen werden. Denn wir leben in einer kapitalistischen Gesellschaft, die in Klassen gespalten ist.

Besonders diejenigen, die vom Status quo profitieren, betonen vehement, die Gesellschaft dürfe nicht gespalten werden. Diejenigen, die nicht davon profitieren und deshalb Veränderungen einfordern, werden schnell als Spalter denunziert.

Das können streikende Gewerkschafter genauso sein wie demonstrierende Jugendliche oder Klimaaktivisten. Alles, was den Status quo kritisiert und angreift, kann dann als Spalter denunziert werden. Dabei sollte nicht weniger, sondern mehr Spaltung in der Gesellschaft gefordert werden.

Die Menschen sollten ihre Interessen vertreten, was beispielsweise bedeutet, für mehr Lohn und weniger Arbeitszeit einzutreten. Dagegen wenden sich bis heute Kapitalverbände mit Vehemenz, weil ihr Profit geschmälert wird. Hier zeigt sich auch, dass hinter der Spaltung der Gesellschaft eine Klassenfrage steckt.

Die Konsequenz müsste sein, mehr Klassenkampf von unten zu fordern, statt über die Spaltung der Gesellschaft zu jammern. Das hatte ein Olaf Scholz vor 40 Jahren als linker Jungsozialist noch gewusst, aber beim Marsch durch die Institutionen längst vergessen.

„Die Vernünftigen und Anständigen sind viel mehr“

Es ist bezeichnend, aber nicht verwunderlich, dass Scholz in seiner kurzen Rede gegen die Spaltung der Gesellschaft selbst Begriffe benutzt, die diese Spaltung vorantreiben.

Da beschwört er eine große Mehrheit derjenigen, die anpacken und einfach machen. Das wird noch verstärkt, wenn er von den Vernünftigen und Anständigen spricht, die mehr sind. Auch die Formulierung „ganz normale Leute“ darf nicht fehlen.

Es stellt sich die Frage, wer die Gegner sind. Die Unvernünftigen und Unanständigen? Die Normalen gegen die Unnormalen? Hier wird ein großer Gegensatz aufgebaut, der immer wieder populistisch genutzt wird. Die Vernünftigen gegen die Dummen, die Anständigen gegen die Unanständigen – das sind Gegensätze, die auch von rechtsoffenen Kreisen verbreitet werden.

Geschickt übt sich Scholz in der Rolle des Warners und Mahners, der auch manchmal ein offenes Ohr für diejenigen zu haben scheint, die an der Politik zweifeln. So spricht er sich für die Bewaffnung der Ukraine aus, ist aber dagegen, dass Deutschland Kriegspartei wird.

Da atmen manche auf und machen Scholz gleich zum Friedenskanzler. Tatsache ist, dass Deutschland spätestens seit dem Maidan-Aufstand 2014 in der Ukraine auch Kriegspartei ist.

Es war die Bundesrepublik Deutschland, die in der Ukraine mit dafür gesorgt hat, dass der deutschfreundliche Teil des ukrainischen Nationalismus die Macht an sich reißen konnte. Das gehört auch zur Vorgeschichte des Einmarsches nach Russland. Nur wird eine solche Position sofort in die Nähe der Putin-Nähe gerückt, auch wenn sie von Personen kommt, die Putin bekämpfen.

Gegen offene Grenzen und Migration

Auch bei der Migrationsfrage stellt sich Scholz als Mann der Mitte dar, wenn er sich gegen offene Grenzen und Remigration stellt. Dass Scholz erst vor wenigen Monaten als der Abschiebekanzler bezeichnet wurde, weil er sich für konsequente Abschiebungen im großen Stil einsetzte, hat er mehrmals wiederholt.

Es zeugt von einer Entpolitisierung der Gesellschaft, dass so jemand noch als Mann der Mitte hervortreten kann, der vor Spaltung in der Gesellschaft warnt.

Einschwören auf den Wahlkampf

Die kurze Rede war auch schon vorgezogener Wahlkampf. Denn nicht wenige glauben, die Regierungskoalition werde noch vor Weihnachten platzen. Dann könnte sich Scholz als Mann der Mitte präsentieren, obwohl er in vielen Punkten rechte Politik macht.

Nach der Logik des kleineren Übels mit der AfD als Hauptfeind kann sich Scholz dann als Alternative präsentieren. Das war genau das Modell von Woidke in Brandenburg.

Er hat mit seiner Ansage, zurückzutreten, wenn die SPD nicht stärkste Partei im Landtag wird, genau jene Politik der Spaltung betrieben, die Scholz jetzt so wortreich ablehnt. Woidke ging es um den Machterhalt. Das hat er mit Scholz gemein.

Die kurze Rede war auch schon vorgezogener Wahlkampf. Denn nicht wenige glauben, die Regierungskoalition werde noch vor Weihnachten platzen. Dann könnte sich Scholz als Mann der Mitte präsentieren, obwohl er in vielen Punkten rechte Politik macht.

Nach der Logik des kleineren Übels mit der AfD als Hauptfeind kann sich Scholz dann als Alternative präsentieren. Das war genau das Modell von Woidke in Brandenburg.

Er hat mit seiner Ansage, zurückzutreten, wenn die SPD nicht stärkste Partei im Landtag wird, genau jene Politik der Spaltung betrieben, die Scholz jetzt so wortreich ablehnt. Woidke ging es um den Machterhalt. Das hat er mit Scholz gemein. Peter Nowak