Das Urteil im türkischen Ergenekon-Verfahren hat in den letzten Wochen durch die politische Entwicklung eine neue Bedeutung bekommen
Vor einigen Jahren wäre das Urteil gegen den frühen türkischen Generalstabschef Ilker Basburg eine Sensation gewesen. Der kemalistische General, expliziter Gegner der regierenden AKP unter Erdogan, wurde zu lebenslänglicher Haftstrafe verurteilt, weitere Militärs erhielten Haftstrafen zwischen 47 und 20 Jahren. 21 Angeklagte, darunter Journalisten und Akademiker wurden freigesprochen. Mit dem heutigen Urteilsspruch ging nach mehr als 5 Jahren das sogenannte Ergenekon-Verfahren [1] in der Türkei zu Ende.
Der Name geht auf eine Legende türkischer Nationalisten [2] zurück. Nach Überzeugung der türkischen Justiz hat sich ein ultranationalistischer Geheimbund diesen Namen gegeben, deren Ziel der gewaltsame Sturz der AKP-Regierung gewesen sei. Als das Verfahren vor mehr als 5 Jahren begann, wurden die Ermittlungen nicht nur von den Anhängern der Erdogan-Regierung, sondern auch von ihren linken Kritikern [3] und von Menschenrechtlern [4] unterstützt.
Das hat sich in den letzten Jahren geändert. Mittlerweile spricht nicht nur die kemalistische parlamentarische Opposition, sondern auch die linke Opposition von einer Abrechnung mit der Opposition gegen die AKP [5].
Linke Opposition verändert Einschätzung zum Verfahren
Zu dieser veränderten Einschätzung hat nicht zuletzt beigetragen, dass das Ergenekon-Verfahren auf immer weitere Kreise der türkischen Opposition gegen das AKP-Regime ausgeweitet wurde. Darunter waren Journalisten und Oppositionelle, die schon unter den verschiedenen Militärregierungen in der Türkei verfolgt wurden und auch als klare Gegner des kemalistischen Regimes bekannt sind [6].
So bekam der Name des Verfahrens bei vielen Kritikern der AKP-Regierung eine ganz neue Bedeutung. Sie sehen darin einen Mythos der islamistischen Regierung, um mit der Opposition abzurechnen. Allerdings wird in der veränderten Einschätzung dieses Verfahrens auch deutlich, wie rasant sich die innenpolitischen Koordinaten in der Türkei in den letzten Jahren verschoben haben.
Demzufolge galt die Erdogan-Regierung anfangs auch bei erklärten Gegnern ihrer islamischen Agenda als Garant für die Zähmung des autoritären kemalistischen Staates, der von Zeit zu Zeit auch das Militär als Staat im Staat gegen seine Gegner einsetzte. Viele linke Oppositionelle waren über die Rasanz überrascht, mit der die AKP-Regierung die türkische Innenpolitik veränderte. Der Übergang vom kemalistischen zum islamisch-konservativen Regime in der Türkei ging vor allem deshalb so reibungslos voran, weil ein Austausch der kapitalistischen Eliten im Lande stattgefunden hat.
Die Macht ging von den Istanbuler Eliten auf ein anatolisches Bürgertum über, das eine Symbiose zwischen Moschee und Marktwirtschaft praktiziert. Der Aufstieg der moslemischen Industriellen und Unternehmerverbandes Müsiad [7] ist mit dieser Entwicklung verbunden. Die Grundlage für die relativ breite Unterstützung des neuen Regimes war ein Wirtschaftsaufschwung, der von Analysten auch als Wunder am Bosporus bezeichnet wurde. Der kulturalistische Aspekt des Elitentausches in der Türkei, der vor allem in der hiesigen Debatte oft im Vordergrund steht, spielte hingegen in der türkischen Innenpolitik lange Zeit keine so bedeutende Rolle.
Die Polarität säkular versus islamistisch hatte für viele türkische Oppositionelle beider Strömungen schon deshalb nicht die dominierende Bedeutung, weil bereits während der Zeit des letzten Militärregimes eine Islamisierung in Teilen der Gesellschaft gefördert wurde. Andererseits schien die AKP-Regierung anfangs eine Light-Version des islamischen Regimes zu vertreten. Die AKP wurde daher oft als islamische CDU bezeichnet [8].
Zeigt Urteil Stabilität des AKP-Regimes?
Dieses Verhältnis hat sich in den letzten Jahren verändert. Während die kemalistische Opposition wieder stärker ihre säkularen Wurzeln betont, verfocht die AKP-Regierung in den letzten Jahren immer stärker eine Wertediskussion mit islamisch-nationalistischer Prägung. Diese Wendung könnte allerdings auch mit dem von vielen Ökonomen vorhergesagten Ende des türkischen Wirtschaftswunders, das auf billigen Krediten aus dem Ausland aufgebaut ist, zusammenhängen. So sprechen Analysten [9] davon, dass vor allem ausländische Investoren sich aus der Türkei zurückziehen.
Die Proteste der letzten Wochen in der Türkei können so ebenso als Wetterleuchten einer neuen Periode wirtschaftlicher und sozialer Verwerfungen in der Türkei interpretiert werden wie die islamistische Wertedebatte der AKP. Die Beantwortung der Frage, wie stabil das AKP-Regime ist, hängt von der wirtschaftlichen Entwicklung und der weiteren politischen Orientierung der Protestbewegung ab. Wird es ihr gelingen, einen eigenständischen Pool neben den kemalistischen und den islamistischen Eliten zu bilden?
Nur so kann sie die Fehler der Mehrheit der ägyptischen Demokratiebewegung vermeiden, wo man in den letzten Wochen ebenfalls einen Machtkampf zwischen zwei autoritären Eliten im Land beobachten konnte, der vorerst zuungunsten der islamistischen Herrschaftsvariante ausging. Dass die demokratische Opposition mit ihren Versuchen, einen dritten Platz zu besetzen, also sich weder vor den Karren der Moslembrüder noch der Post-Mubarak-Kräfte spannen zu lassen, scheiterte, ist ein Indiz für die Schwäche der demokratischen Kräfte, die mit viel Rhetorik über das Weitergehen der Revolution überdeckt wird. In der Türkei wird der Ausgang des Machtkampfes in Ägypten von allen Kräften sehr genau beobachtet. Schließlich hat sich Erdogan als vehementer Unterstützer der Regierung der Moslembrüder zu profilieren versucht.
Nach der Machtübernahme des Militärs in Kairo haben auch bisher kleine Teile der Opposition ein solches Szenario für die Türkei wieder ins Gespräch gebracht. Für viele Teile der linken Opposition in der Türkei sind aber die Zeiten des Terrors und der Folter während des Militärregimes noch sehr lebendig. Trotzdem könnte die durch die AKP entmachtete kemalistische Elite bei ihren Versuchen, die Macht zurück zu erlangen, auch wieder die militärische Karte ziehen. Bei einem Ende des Wirtschaftsaufschwungs könnte sie damit auch in Teilen der verarmten Schichten an Einfluss gewinnen. Daher kann das heutige Urteil auch als Signal an diese Kreise verstanden werden, dass es ein ägyptisches Szenario in der Türkei nicht geben wird.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/print/154732
Peter Nowak 05.08.2013
Links
[1]
http://www.ergenekonteror.com/
[2]
http://www.heise.de/tp/artikel/31/31554/1.html
[3]
http://www.tuerkeiforum.net/trw/index.php/2008_T%C3%9CRK%C4%B0YE_%C4%B0NSAN_HAKLARI_RAPORU
[4]
http://amnesty-tuerkei.de/wiki/Helmut_Oberdiek:_Der_tiefe_Staat
[5]
http://www.akparti.org.tr/english
[6]
http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/649239/Die-Jagd-der-tuerkischen-Justiz-auf-ein-Buchmanuskript
[7]
http://www.muesiad-berlin.de/
[8]
http://www.kas.de/wf/de/33.1497
[9]
http://www.bloomberg.com/news/2013-06-27/erdogan-s-paranoia-and-turkey-s-economy.html
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