Der verdrängte Genozid

Nach mehr als 100 Jahren hat die Berliner Charité die Schädel von Opfern des deutschen kolonialen Genozids an den Herero und Nama an Namibia zurückgegeben. Bislang hat sich die Bundesrepublik nicht entschuldigt, um keinen Ansprüchen auf Wiedergutmachung Vorschub zu leisten.

„Deutschland ist das Land der freien Rede«, rief Cornelia Pieper, Staatsministerin im Auswärtigen Amt, der Menge zu. Doch dieser Versuch, sich Respekt zu verschaffen, regte das Publikum noch mehr auf. Ein Großteil der Zuhörer buhte Pieper aus. Einige hielten Schilder hoch, auf denen eine Entschädigung für die deutschen Kolonialverbrechen gefordert wurde.

Es waren vor allem Aktivisten von zivilgesellschaftlichen Initiativen aus Namibia, die am Freitag voriger Woche der FDP-Politikerin in der Berliner Charité zu verstehen gaben, dass ihre Geduld zu Ende ist. An diesem Tag übergab die Charité 20 Schädel, die dort fast 100 Jahre lang aufbewahrt worden waren. Die Gebeine stammen von Angehörigen der Herero und Nama, die vor mehr als einem Jahrhundert von deutschen Kolonialsoldaten ermordet wurden. Hunderte Schädel wurden anschließend für sogenannte rassen­anatomische Untersuchungen nach Deutschland gebracht. Lange Zeit wurden die Forderungen der namibischen Initiativen nach Rückgabe der Gebeine ignoriert.

Dass die Charité nun den Anfang macht, bewerten die Intitiativen als längst überfälligen Schritt, kritisieren aber, dass ein Großteil der Kosten für die Identifizierung und die Restaurierung der Gebeine von Namibia getragen werden musste. Eine Sprecherin der Charité wollte in der Übergabe einen Schritt zur Versöhnung sehen. Die namibischen Aktivisten und ihre hiesigen Unterstützer machten mit ihren Protesten gegenüber Pieper jedoch deutlich, dass für sie eine Entschuldigung und Ent­­schädigung politisch notwendig sind.

»Seit Jahren werden wir mit schönen Worten über die Verbrechen des deutschen Kolonialismus an unseren Vorfahren abgespeist. Aber von einer Entschuldigung oder Entschädigung ist nie die Rede«, sagte Ida Hoffmann vom Komitee zur Aufklärung des Völkermords an den Nama. »Bis heute hat sich kein deutscher Regierungsvertreter für die Verbrechen des deutschen Kolonialismus entschuldigt«, kritisiert auch Armin Massing vom Berliner Entwicklungspolitischen Ratschlag. Damit wolle die deutsche Regierung Entschädigungsforderungen abwehren. Der Versuch der verschiedenen Bundesregierungen, die Pflege deutscher Wirtschaftsinteressen, welche eng mit entwicklungspolitischen Maßnahmen verknüpft ist, durch Aufarbeitung der Kolonialpolitik zu veredeln, wird von den namibischen NGO heftig zurückgewiesen. Sie kritisieren auch Versuche der deutschen Politik, über ihre Köpfe hinweg mit der namibischen Regierung zu verhandeln. »Wir können uns selber vertreten. Die Bundesregierung soll endlich mit den Opferverbänden in Verhandlungen über Reparationen treten«, fordert Festus Tjikuua vom Komitee für die Aufarbeitung des Völkermordes von 1904.

Das Datum erinnert an den Beginn des bis 1908 andauernden Vernichtungskrieges deutscher Kolonialtruppen im heutigen Namibia. Verantwortliche Militärs sprachen damals offen aus, dass die Menschen, die sich gegen die deutsche Kolonialherrschaft wehrten, vernichtet werden müsten. Einige der daran beteiligten Militärs gehörten später zu den Unterstützern der Nationalsozialisten. Auch die Methoden, die gegen die afrikanischen Bewohner angewandt wurden, nahmen teilweise den Terror der Nazis vorweg. So wurden Tausende Afrikaner in eine wasserlose Wüste getrieben, wo sie dem Tod ausgeliefert wurden. Wer sich den wenigen von deutschen Militärs bewachten Wasserstellen näherte, wurde erschossen. Frauen und Kinder sollten ausdrücklich nicht verschont werden. »Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und keine Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auch auf sie schießen«, hieß es im berüchtigten Vernichtungsbefehl des verantwortlichen Generalleutnants Lothar von Trotha. Afrikanische Gefangene wurden in Lager gepfercht, wo sie unter unmenschlichen Bedingungen Zwangsarbeit beim Straßenbau verrichten mussten. Dominik Schaller, Historiker an der Universität Heidelberg, kommt zu dem Ergebnis, dass mehr als die Hälfte der Inhaftierten infolge von Krankheiten, Zwangsarbeit und Mangelernährung gestorben sind. Bis zu 80 000 Afrikaner sind den deutschen Kolonialtruppen zum Opfer gefallen. Nicht nur die Form des Terrors, sondern auch die Formierung der Heimatfront nahm die Methoden der Nazis vorweg. Bei den als »Hottentottenwahlen« in die Geschichtsschreibung eingegangenen Reichstagswahlen wurden alle Kritiker der deutschen Kolonialpolitik, die vor allem beim linken Flügel der Sozialdemokratie und vereinzelt im bürgerlichen Lager zu finden waren, als Vaterlandsverräter diffamiert. Damals formierte sich erstmals eine frühe »Volksgemeinschaft«, die bis ins Lager der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften reichte und den Terror der Kolonialtruppen als Kampf um Deutschlands »Platz an der Sonne« unterstützte.

Auch mehr als 100 Jahre später ist dieser Teil der deutschen Verbrechensgeschichte wenig aufgearbeitet. So wird jedes Jahr am Volkstrauertag vor dem Herero-Stein auf dem Garnisonsfriedhof am Berliner Columbiadamm der deutschen Soldaten gedacht, die im Kolonialkrieg gegen die Herero und Nama starben. Seit 2009 erinnert eine Tafel an die »Opfer des Kolonialkrieges«. Weder Opfer noch Täter werden benannt. Für ein antifaschistisches Bündnis, das seit einigen Jahren gegen die Ehrung der deutschen Krieger protestiert, ist diese Formulierung Ausdruck von Geschichtsrevisionismus. Unter dem Motto »Deutsche Helden vom Sockel holen« ruft es anlässlich der Feierlichkeiten, die am Volkstrauertag am Columbiadamm veranstaltet werden, zu einer Kundgebung auf dem Garnisonsfriedhof auf. Die Nachfahren der afrikanischen Opfer deutscher Kriegspolitik haben also Verbündete, die allerdings nicht in der Bundesregierung sitzen.

http://jungle-world.com/artikel/2011/40/44076.html

Peter Nowak