Peter Nowak zur Vergangenheit einer Berliner Siedlung

Anfang der fünfziger Jahre wurde das Waldviertel in Berlin-Zehlendorf noch ganz unbefangen „SS-Siedlung“ genannt. Am Rande der Hauptstadt war Ende der dreißiger Jahre eine Kameradschaftssiedlung der Nazi-Schutzstaffel errichtet worden. Man lebte in einem Umfeld, „in dem die Angehörigen der SS ausreichend und gesunden Wohnraum finden und das insbesondere den Aufstieg der Familien zu fördern geeignet ist“, so „Reichsführer“ Heinrich Himmler.
Nach dem Ende des NS-Regimes war es für die braune Elite erst einmal mit dem Stadtrandidyll vorbei. Die Alliierten vergaben die Wohnungen an Verfolgte und Emigranten. Doch schon Mitte der fünfziger Jahre wehte wieder ein anderer Wind. Antonin Dick, der als Emigrantenkind seine Schulzeit in dem Viertel verbracht hat, kann sich noch erinnern, wie SS-Leute Anspruch auf ehemaligen Wohnungen und zurückgelassenes Mobiliars erhoben.
Heute will ein Großteil der Bewohner an die Nazi-Vergangenheit der Siedlung möglichst nicht mehr erinnert werden. Man solle doch endlich die Vergangenheit ruhen lassen, hieß es, als das Zehlendorfer Kulturamt die Aufstellung einer Informationstafel zur Geschichte der Siedlung beschloss. Die Siedlung stehe schon siebzig Jahre – und habe nur sieben Jahre davon SS-Zwecken gedient, so ein Bewohner. Ein anderer befürchtete gar, dass Neonazis angelockt werden könnten.
Anwohner stellen Fragen
Die Einwände hatten Erfolg. Das zuständige Kulturamt wartete mit einer ganz neuen Variante des Prinzips „Geschichte von Unten“ auf. Da die Bewohner mehrheitlich den Namen Himmler im Zusammenhang mit der Vergangenheit der Siedlung nicht lesen wollten, wurde der kurzerhand gestrichen. Auch die Rolle der Gemeinnützigen Aktiengesellschaft für Angestellten-Heimstätten (Gagfah) wird in dem Text weitgehend ausgeblendet. Das Unternehmen war für Bau und Verwaltung der Siedlung zuständig. Gagfah-Architekt Hans Gerlach hatte die Planung mit dem Rasse- und Siedlungshauptamt der SS für abgestimmt. Die Gagfah gehörte auch in der Nachkriegszeit zu den führenden Berliner Wohnungskonzernen.
Kulturamtschefin Sabine Weißler räumte ein, dass es schwierig sei, historisch korrekt zu bleiben und gleichzeitig die Anwohner-Wünsche zu berücksichtigen. Die Zehlendorfer Version der Vergangenheit kann man nun auf der Tafel lesen. „Die friedvolle Atmosphäre, welche die in den Landschaftsraum eingebettete Siedlung dem unbefangenen Betrachter heute vermittelt, macht es schwer, ihre Geschichte in Erinnerung zu rufen. Diese ist unmittelbar mit ihrer Entstehungszeit im Nationalsozialismus verwoben.“ Eine NS-Verfolgte, die von den Alliierten eine Wohnung in der Siedlung zugewiesen bekam und dort bis heute wohnt, wurde ebenso wenig zur Diskussion um die Tafel eingeladen, wie ihr in der Emigration geborener und in Berlin aufgewachsener Sohn.
Sollte das Zehlendorfer Modell Schule machen und Informationstexte über die NS-Vergangenheit künftig mit den Anwohnern ausgehandelt werden? Dann würde wohl bald kein bekannter Nazi mehr namentlich genannt werden – weil die heutigen Bewohner nicht mit ihm in Verbindung gebracht werden wollen.

Quelle: der Freitag,

28. Januar 2010
4. Woche, S. 4
Peter Nowak


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