Rebellisches Berlin beschreibt die Berliner Stadtgeschichte von unten – von der Seite der Kämpfe, der versuchten kaum geglückten sozialen Revolution(en).“ (S. 13) So beschreiben die Herausgeber*innen ihr Buch, das im Covertext den Anspruch formuliert, „eine einzigartige Mischung aus Reiseführer und Geschichtsbuch“ und gleichzeitig ein „Standardwerk der linken widerständigen Geschichte Berlins“ zu sein. Die Autor*innen des mit über 800 Seiten voluminösen Werks müssen daran scheitern. Eine linksradikale Gegengeschichte braucht schließlich kein Standardwerk. Steht dieser Anspruch nicht auch im Widerspruch zum subjektivistischen Blick viele Autor*innen auf die Geschichte, wie sie vor allem in den ersten neun der 13 Kapitel deutlich wird? Das Buch beginnt mit einem Aufruf zur …
… Radikalisierung der Klimaproteste, der sich aber am Ende als reformistisch entpuppt. „Wir werden aufstehen, bis auch die Politik für uns aufsteht“ (S.22), heißt es da. Die Kombination eines weniger analytisch als moralisch aufgeladenen verbalradikalen Duktus mit reformerischen Inhalten lässt sich im Buch öfter finden. Hier wird das Politikverständnis eines Großteils der autonomen Szene Berlins deutlich. Als Beispiel brauchen wir nur den ersten Text im Kapitel „Die Stadt gehört uns“ herauszugreifen, der sich unter dem Titel „Rage against the Suchmaschine“ mit dem Kampf gegen den geplanten Google-Campus in Berlin-Kreuzberg beschäftigt. Nachdem Google auf dieses Projekt in Kreuzberg vorerst verzichtet hat, äußert ein Autor mit dem Alias-Namen Stefan Niedriglöhner die Hoffnung, „dass moderne Maschinenstürmerei […] alsbald keine Randerscheinung mehr“ (S. 33) sein werde. Im Anschluss werden dann aber die jahrelangen gewerkschaftlichen Kämpfe der Amazon-Beschäftigten um einen Tarifvertrag lobend gewürdigt, ohne zu erwähnen, dass dieser Kampf mit Maschinenstürmerei wenig zu tun hat. Auch in den anschließenden Kapiteln werden viele verdienstvolle linke Organisationsversuche in Berlin vorgestellt, wie das Bündnis Zwangsräumung verhindern, die Stadtteilinitiative Kotti und Co. oder die Geschichte des Widerstands gegen das Projekt Media-Spree, die heute weitgehend abgeschlossene Errichtung von hochpreisigen Bürobauten an der Spree in Friedrichshain und Kreuzberg. Warum es dabei so wenig Erfolge gab, wird hauptsächlich mit der Repression erklärt: „Das Media-Spreegebiet wird vielen Menschen in Erinnerung blei en als Ort, in dem nur auf antidemokratische Weise, mit Polizeiknüppel […] die Profit-Interessen der Investor*innen durchgesetzt werden konnten.“ (S. 50) Dabei wird ausgeblendet, dass beispielsweise die Mercedes-Benz Arena (bis 2015 O2 World) vor der Pandemie vielen Menschen eher als Eventort in Erinnerung geblieben ist. Eine Auseinandersetzung mit der Frage, warum es der Bewegung gegen Media-Spree trotz vieler Bemühungen kaum gelang, das Spektrum der linken Szene zu überwinden, fehlt ebenso wie eine Antwort auf die Frage, warum bei Kotti und Co. genau das gelungen ist. Auch die Auswahl der vorgestellten Initiativen ist sehr subjektiv und wird nicht inhaltlich begründet. Während die seit Jahren erfolgreiche Initiative Bizim Kiez, die im Kampf um einen Gemüseladen in Kreuzberg im Sommer 2015 wöchentlich Hunderte Menschen auf die Straße gebracht hat und noch immer aktiv ist, nicht erwähnt wird, sind der Bewegung NOlympia aus den frühen 1990er-Jahren 10 Seiten ge- widmet. Sie wird als erfolgreiche autonome Kampagne gelabelt. Stadtpläne, auf denen wichtige Orte der jeweiligen Widerstandsbewegung aufzeichnet sind, lösen den Anspruch ein, dass sich das Buch als alternativer Reiseführer gut eignet. Die Auswahl der dokumentierten Beiträge machen die kulturellen und politischen Präferenzen der linken Szene Berlins deutlich.
Während im Kapitel migrantische und antirassistische Kämpfe 15 Beiträge dokumentiert sind, umfasst das Kapitel Arbeitskämpfe lediglich 4 Aufsätze: Ein Beitrag dreht sich um Orte der Sexarbeiter*innenbewegung, der zweite um die Geschichte des 1. Mai vom Haymarket 1886 bis zum Revolutionären 1. Mai in Berlin. Während viele Details über Streit und die diversen Spaltungen rund um die autonomen 1.-Mai-Aktivitäten ausführlich dargestellt werden, bleibt die Beschreibung der Mayday-Paraden der Prekären, die zwischen 2006 und 2009 viermal in Berlin stattfanden, oberflächlich. So wird ausgeblendet, dass von dort eine Kooperation zwischen postautonomen Linken und aktiven Gewerkschafter*innen ausging, die bei der Aktion Dichtmachen dafür sorgte, dass beim Arbeitskampf im Einzelhandel 2008 die bestreikten Filialen geschlossen werden mussten. Im Nachgang wurde einer akti- ven Gewerkschafterin wegen der angeblichen Unterschlagung von zwei Pfandbonds gekündigt. Die Initiative „Solidarität mit Emmely“, die für einige Zeit sogar bundesweit Aufmerksamkeit fand, ist daraufhin entstanden. Dass in der umfangreichen Geschichte des Rebellischen Berlins diese Kämpfe keinen Platz gefunden haben, ist kein Zufall. Soziale und gewerkschaftliche Kämpfe werden ebenso weitgehend ausgeblendet wie die Aktivitäten von Erwerbslo- sen, die sich beispielsweise mit der Aktion „Keine/r muss allein zum Amt“ auch in Berlin gegen die Zumutungen einer autoritären Bürokratie wehren. Das Fehlen solcher Beiträge ist umso unverständlicher, wo es seit Jahren selbstorganisierte Erwerbsloseninitiativen wie Basta! gibt. Ein positi- ves Beispiel ist der Beitrag von Garip von der migrantischen Gruppe Allmende, der auf knapp 15 Seiten einen Überblick über eine „kurze Geschichte türkisch-migrantischen Widerstandes“ (S. 215–227) in Berlin gibt. Dort wird auch die Verbindung zu den sozialen Kämpfen gezogen. „Gleichwohl war es wichtig zu verstehen, wie die Chancen der Migrant*innen auf dem Arbeitsmarkt und auf dem Wohnungsmarkt verbessert werden konnten, da es z. B. eine Zuzugssperre in drei Bezirken (Kreuzberg, Schöneberg und Wedding) gab. Gegen die- se sich zuspitzenden Diskriminierungen wurde Stellung bezogen. Die Aktionen und Kämpfe für mehr Arbeiter*innenrechte fanden auch durch Streiks in den Fabriken ihren Ausdruck.“ (S. 217)
Einen guten Überblick gibt auch ein Beitrag von A. Knall und B. Fall über ein „[v]ereiteltes Attentat auf die Siegessäule“ (S. 518–525). Ausgehend vom gescheiterten Anschlagsversuch der Revolutionären Zellen (RZ) im Jahr 1991 wird rekapituliert, dass bereits 1923 ein Anschlagsversuch kommunistischer Arbeiter*innen auf das Denkmal gescheitert war und in den Jahren 1946/47 sogar die Alliierten und der damalige Berliner Magistrat für eine Sprengung der Siegessäule eintraten (S. 521), die damals wie ein Mahnmal des deutschen Militarismus die Trümmerlandschaft des Krieges überragte. Im Zuge des Kalten Kriegs und des forcierten. Wiederauf baus verschwanden diese Pläne in der Schublade. Auf den letzten knapp 250 Seiten informieren Historiker*innen über die Geschichte des Anarchismus in Berlin, den Blutmai 1929 sowie die Novemberrevolution und die folgenden revolutionären Monate in Berlin. Wir erfahren dort auch, wie die Sozialdemokratie dafür sorgte, eine sozialistische Umgestaltung zu verhindern, und wie die bewaffnete Konterrevolution bald zur großen Gefahr für die Weimarer Republik wurde.
Der Historiker Hans-Rainer Sandvoß vertritt die These, dass Berlin nie ganz vom Nationalsozialismus übernommen werden konnte und verweist auf verschiedene Widerstandsaktionen. Dabei ist bemerkenswert, dass über diese Themen fast nur männliche Autoren schreiben. Dabei hat beispielsweise die in Berlin lebende Dania Alasti 2018 unter dem Titel „Frauen der Novemberrevolution“ im Unrast-Verlag ein Buch herausgegeben, das sich der Proteste von Frauen gegen die Lebensmittel- und vor allem Brotpreise während des Ersten Weltkriegs widmet. Es wird auch in der Literaturliste nicht erwähnt.
So ist „Rebellisches Berlin“ erfreulicherweise kein Standardwerk der linken Berliner Geschichte geworden, sondern ebenso mit Mängeln und Widersprüchen behaftet wie die Bewegungen, die dort beschrieben werden. Das ist durchaus als Kompliment zu verstehen.
Peter Nowak