Einige Deutsche fühlen sich durch den Ukraine-Krieg endlich befreit. Auch wenn sie betonen, wie grausam er ist. So können sie guten Gewissens "Nie wieder Russland" schreien.

Panzerrohr auf russische Botschaft: Deutscher Geschichtsrevisionismus marschiert

Merkwürdigerweise kritisieren viele Antifaschisten nur die Querfrontansätze auf Seiten der Friedensbewegung. Das ist völlig berechtigt, aber da fragt man sich, warum nicht auch die proukrainische Querfront ebenso kritisch unter die Lupe genommen wird. "Bald wird es nicht mehr die Rote Armee sein, die Auschwitz befreit hat, sondern das Asow-Bataillon" bringt die französische Schriftstellerin Marie Rotkopf sie Umdeutung der Geschichte auf den Punkt. Sie hat den klugen Satz in dem von ihr neu herausgegebenen und kommentierten Schrift "Deutschland über alles geschrieben, den der französische Soziologe 1915 während des Ersten Weltkriegs verfasst hat und der hierzulande kaum bekannt ist. Verlag Matthes & Seitz diese fast 110 Jahre alte Deutschlandkritik wiederaufgelegt hat. Noch erfreulicher sind die klugen Gedanken, die sich Marie Rotkopf über Durkheims Schrift und seine Aktualität gemacht hat. Vor 20 Jahren wäre der schmale Band bei deutschlandkritischen Linken ein Bestseller geworden. Doch einige von ihnen tragen jetzt lieber "Nie wieder Russland"-Plakate.

„Wenn Sie zur Veranstaltung wollen, gehen Sie nach rechts!“ Diese Ansage machte die Polizei am Samstag nach 14 Uhr an die Menschen, die zur Friedenskundgebung am Brandenburger Tor wollten. Wegen des großen Andrangs waren der Pariser Platz und auch die dortige S- und U-Bahn gesperrt, so dass die Menschen über mehrere Ecken den noch mit Zäunen abgegrenzten Kundgebungsort erreichten. „Hoffentlich müssen nicht so weit nach rechts gehen, dass wir am AfD-Stand landen“, sagte ein junger Mann lachend. Er nahm Bezug auf die Debatte, die sich in den letzten Tagen intensiviert hat. Da hatte man gelegentlich den Eindruck, dass man mit Tausenden

militanten Rechten am Brandenburger Tor rechnen musste. Dafür zwei Beispiele: In der Wochenend-taz war auf Seite 37 eine bezahlte Anzeige für die Friedenskundgebung abgedruckt.

Auf der gleichen Seite gab es mit roter Farbe einen Einschub: „Anm. d. Red.: Man geht nicht mit Nazis auf der Straße #KeinFußbreit“. Diese Redaktionsanmerkung ist schon ungewöhnlich, denn in der taz sind ja öfter bezahlte Anzeigen abgedruckt, die einem Teil der Leserinnen und Leser nicht gefallen. In den Anfangsjahren der taz gab es dagegen noch die Setzer-Anmerkungen, die damals aber manche redaktionellen Artikel von links kritisierten.

Da wäre auch eine Anmerkung denkbar gewesen, wenn in einer taz-Reportage aus Charkiw eine ukrainische Nationalistin berichtet, dass es in dem Ort von russischen Kollaborateuren wimmelt, die sie aber bei den ukrainischen Behörden anzeigt und auf ihre Bestrafung hofft. Wäre da nicht eine Redaktionsanmerkung sinnvoll gewesen, die fragt, ob es bei diesen Kollaborateuren vielleicht um den Teil der Bevölkerung in der Stadt handelt, die außenpolitische Wende in der Nach-Maidan-Ukraine nicht mitvollzogen haben?

Ein weiteres Beispiel für die aufgeheizte Stimmung vor der Kundgebung war der anonyme Aufruf „Wir werden sie jagen“, in dem der Friedensaufruf pauschal als „Manifest für die Querfront“ bezeichnet wurde. Dort wurde der Eindruck erweckt, die Kundgebung sei von Jürgen Elsässer, der AfD und anderen rechten Gruppen mit organisiert worden.

Tatsächlich wurde aber von den Veranstalterinnen mehrmals erklärt, dass diese Organisationen nicht erwünscht sind. Der vom Organisationsteam gestartete Versuch, den Compact-Chefredakteur und konkreten Querfront-Anhänger Jürgen Elsässer von der Polizei aus der Kundgebung ausschließen zu lassen, scheiterte an der Polizei. Weil Elsässer erklärte, er wolle die Kundgebung nicht stören, sondern unterstützen.

Vorwerfen kann man den Organisatoren allerdings, dass sie nicht mit klar antirassistischen und antifaschistischen Aussagen im Aufruf die Kundgebung für Querfront-Anhänger unattraktiv gemacht haben.

Konsequent für Frieden und Abrüstung und gegen Rechts

Eine differenzierte Erklärung zu der Großkundgebung kam von der Stadtteilinitiative „Hände weg vom Wedding“. Sie sparten durchaus nicht mit Kritik an den beiden in der Öffentlichkeit stehenden Organisatorinnen Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer, erinnerten aber daran, dass es viel mehr Erstunterzeichner des Manifests gegeben hat.

Das sich u.a. im Vorfeld der Friedenskundgebung am 25. Februar formierte Spektrum an Unterstützer:innen umfasst gesellschaftliche Akteure wie Romani Rose vom Zentralrat der Sinti und Roma, kirchliche Stimmen aber auch kritische Wissenschaftler:innen aus der Armuts- und Rechtsextremismusforschung. Ihnen sollten wir öffentlich in der konsequenten Beantwortung der Friedensfrage den Rücken decken.


Aus der Erklärung „Konsequent für Frieden und Abrüstung der Stadtteilinitiative Hände weg vom Wedding

Die deutsche Brille wurde nicht abgenommen

In dieser Erklärung wird dankenswert daran erinnert, dass zu den Erstunterzeichnern des Manifests u.a. der linke Publizist Christian Baron, der ausgewiesene Rechtsextremismusforscher Hajo Funke, die Regisseurin Andrea Breth, die Cartoonistin Franziska Becker und Romani Rose vom Zentralrat der Sinti und Roma gehören, die nun dafür standen, dass die Kundgebung kein rechtes Event wurde.

Dementsprechend erklärte die Polizei, dass sich wohl Rechte auf der Kundgebung aufgehalten hatten, dass sie darüber jedoch keine Kenntnisse habe. Tatsächlich stand die Kundgebung in der Tradition der deutschen Friedensbewegung, an der es damals und heute viel zu kritisieren gibt.

Von der kitschigen Musik abgesehen, dominierte der deutsche Blick. Kriegsgegner aus Russland und der Ukraine kamen nicht zu Wort. Die Forderung nach Aufnahme von Deserteuren von allen Seiten stand nicht im Manifest.

Diese berechtigte Kritik wurde bei einer Kundgebung von Friedensgruppen am 23. Februar vor dem Brandenburger Tor gut artikuliert. Sie stand unter dem Motto „Weder Putin noch Nato“ und kritisierte damit erfreulicherweise beide Seiten, die rund um den Jahrestags des russischen Einmarsches in die Ukraine in der Mitte Berlin aktiv wurden.

Wo bleibt die Kritik an der proukrainischen Querfront?

Das blieb eher die Ausnahme. Merkwürdigerweise kritisieren viele Antifaschisten nur die Querfrontansätze auf Seiten der Friedensbewegung. Das ist völlig berechtigt, aber da fragt man sich, warum nicht auch die proukrainische Querfront ebenso kritisch unter die Lupe genommen wird. Für diese proukrainische Rechte konnte man in den letzten Tagen auch genügend Beispiele finden.

Da wurde am Freitagabend vor dem Brandenburger Tor eine Rede des ukrainischen Präsidenten per Video übertragen, die von Heroismus und Nationalismus nur so strotzte. Es war die Rede eins Staatsmannes, der für das Interesse der eigenen Nation den Tod seiner Untertanen heroisiert, wie es von russischer Seite ebenso geschieht.

Bei der ständigen Beschwörung der ukrainischen Nation, die heldenhaft gegen die Aggressoren kämpft, wird ausgeblendet, dass es eben viele Menschen gibt, die sich im Kampf von zwei Nationalismen nicht verheizen wollen. Sie werden dann wie in der taz-Reportage aus Charkiw zu Kollaborateuren erklärt.

Bekannt ist auch, dass auch in der Ukraine die Zahl der Deserteure steigt. Wäre es nicht für Linke selbstverständlich, auf einer solchen Kundgebung den Reden von Sieg und Heroismus die Kritik an jeden Nationalismus und zumindest das Recht auf Ausreise der Deserteure entgegenzuhalten?

Davon hat man aber nichts gehört. Kritik kam auch nicht, als der ukrainische Präsident von den heroischen Verteidigern von Städten wie Mariupol sprach, wo bekanntlich das ultrarechte Asow-Bataillons eine wichtige Rolle spielte. Spätestens an dieser Stelle hätte man doch auf Informationen des Antifa-Infoblatts über die Nazihintergründe dieser Truppe zurückgreifen können. Da braucht doch niemand Angst zu haben, russischer Propaganda auf den Leim zu gehen

Eine Botschaft 80 Jahre nach Stalingrad

Nur wenige Hundert Meter vom Brandenburger Tor konnte man die Propaganda-Show rechter Atlantiker betrachten, die einen ausgebrannten russischen Panzer von Kiew nach Berlin brachten und vor der russischen Botschaft ausstellen. Das Rohr zielte direkt auf das Gebäude. Die Botschaft ist nicht misszuverstehen. Die Botschaft ist russischer Rechtsraum. So wird 80 Jahre nach Stalingrad mitten in Berlin wieder ein Panzerrohr auf Russland gerichtet.

Das passt natürlich gut zu der Lieferung deutscher Leopard-Panzer, in einer Panzerhalle in Flensburg für den Einsatz in der Ukraine fit gemacht werden. Von antimilitaristischen Blockadeplanungen ist bisher nichts bekannt. Doch das russische Panzerrohr auf die Botschaft in Berlin geht in ihrer Bedeutung über diese Debatten hinaus.

So wird ein Bild geschaffen, das auch dazu geeignet ist, dem Hissen der sowjetischen Fahne auf dem zerstörten Reichstag 1945 – ein Resultat des Sieges der Roten Armee über Hiterdeutschland – entgegenzustehen. Im letzten Jahr waren zum Jahrestag der Befreiung vom NS nicht nur russische, sondern auch sowjetische Fahnen verboten. Zwei Männer trugen am Samstag am Rande der Friedenskundgebung große Plakate mit der Losung „Nie wieder Russland“ und wandten sich so gegen die deutsche Friedenssehnsucht.

Da hätten sich mache alte deutsche Stalingrad-Kämpfer sicher sehr gefreut, wenn sie das hätten erleben dürfen. Doch sie haben Erben. Am kaputten russischen Panzer fachsimpelten Männer über den Einsatz und ein Vater erzählte seinen vielleicht 13-jährigen Sohn, wie man diese Mordmaschinen bedient.

Am Rande neben dem Panzer war ein Gedicht mit dem Titel „Ukrainische Nacht“ von Günther Kuvert ausgehängt, das den bezeichnenden Satz enthält: „Der Tod ist nicht nur ein deutscher Meister“. „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ von Paul Celan steht für die Shoah, das unvergleichliche Menschheitsverbrechen, das hier relativiert wird. So soll auch vergessen werden, wer Auschwitz befreite, die Rote Armee, darunter viele Ukrainerinnen und Ukrainer.

Sie waren nach 1945 oft in jenen „orthodoxen Hammer- und Sichel-Parteien“ organisiert, die in der heutigen Ukraine so verhasst sind, wie die Leipziger Linkspartei-Politikerin Juliane Nagel voll Verständnis nach einem Ukraine-Besuch gegenüber dem Neuen Deutschlandberichtete. Andere Ukrainer hatten gemeinsam mit den Deutschen Juden in die Vernichtungslager getrieben.

„Bald wird es nicht mehr die Rote Armee sein, die Auschwitz befreit hat, sondern das Asow-Bataillon“ bringt die französische Schriftstellerin Marie Rotkopf die Umdeutung der Geschichte auf den Punkt. Sie hat den klugen Satz in dem von ihr neu herausgegebenen und kommentierten Schrift „Deutschland über alles“ geschrieben, den der französische Soziologe Emile Durkheim 1915 während des Ersten Weltkriegs verfasst hat und der hierzulande kaum bekannt ist.

Es ist erfreulich, dass der Verlag Matthes & Seitz diese fast 110 Jahre alte Deutschlandkritik wiederaufgelegt hat. Noch erfreulicher sind die klugen Gedanken, die sich Marie Rotkopf über Durkheims Schrift und seine Aktualität gemacht hat. Vor 20 Jahren wäre der schmale Band bei deutschlandkritischen Linken ein Bestseller geworden. Doch einige von ihnen tragen jetzt lieber „Nie wieder Russland“-Plakate. (Peter Nowak)