Pünktlich auf den 8.März erschien das Sammelband «materializing feminism». Darin veröffentlichen 13 Autor*innen Überlegungen zum Verhältnis von Materialismus und Feminismus. Das Buch liefert Diskussionsstoff für einen materialistischen Feminismus auf der Höhe der Zeit.

Materialistischer Feminismus

Friederike Beier, Lisa Yashodhara Haller, Lea Haneberg (Hg.), materializing feminism, Positionierungen zu Ökonomie, Staat und Identität, Unrast Verlag, Dezember 2018, 248 Seiten, ISBN 978-3-89771-319-2

Die Resonanz auf den Frauen*streik am 14.Juni in der Schweiz war auch in Deutschland überwältigend. Der Aktionstag war nur ein Beispiel für einen Feminismus, für den die soziale Frage ein integraler Teil ist. In den USA sind schon zur Amtseinführung von Trump Hunderttausende Frauen* auf die Strasse gegangen. Es gibt Videos, die die Radikalität der Forderungen zeigen, die durchaus Patriarchat und Kapitalismus in Frage stellen. Auch in Ländern wie Argentinien manifestiert sich auf den Strassen ein Feminismus, der gegen die Abtreibungsverbote genauso agiert, wie die gegen die Verarmungspolitik der Macri-Regierung. Nur auf theoretischer Ebene scheint es oft so, als wäre der Feminismus mit dem Kapitalismus ein Bündnis eingegangen. Doch gegen diesen kapitalkonformen Kapitalismus regt sich jetzt auch auf der wissenschaftlichen Ebene Widerstand. Das zeigen der passgenau am 8. März 2019 erschienene Sammelband …

….«materializing feminism». Der englischsprachige Titel sollte nicht abschrecken, die elf interessanten Beiträge zu lesen. Denn sie sind grösstenteils auch für Nichtakademiker*nnen gut lesbar. Der Titel aber ist schlicht der Tatsache geschuldet, dass die Wissenschaftssprache eben englisch ist. Aber unter den Autor*innen, 13 Frauen und ein Mann, hätte es wohl auch Einwände gegen einen Titel «Materialistischer Feminismus» gegeben, dass hätte wohl manchen zu unmodern und traditionell geklungen.

Grenzenlose Selbstentfaltung?
Tatsächlich werden in dem Buch Überlegungen zum Verhältnis von Materialismus und Feminismus veröffentlicht. Gleich in der Einleitung kritisieren Friedericke Beier, Lisa Yashodharo Haller und Lea Haneberg einen Feminismus, der sich dem Neoliberalismus angepasst hat. «Kein Wunder also, dass unsere Identitäten zum heissbegehrten Betätigungsfeld werden. Dabei öffnet sich eine schier grenzenlose Arena von Handlungsmöglichkeiten. Es wird uns suggeriert, dass wir frei sind zu lieben, wen und wie wir möchten und uns selbst so zu definieren, wie wir sein wollen. Und da die ökonomischen Verhältnisse kaum mehr gestaltbar erscheinen, die eigene Handlungsfähigkeit in der Sphäre grenzenloser Selbstentfaltung und –optimierung zu erproben: durch ein neues Tattoo etwa oder durch vegane Ernährung».
Hier wird das Paradox der individualistischen Selbstverwirklichungsideologie gut auf den Punkt gebracht. Du darfst heute so freche T-Shirts anziehen, die alle so schrecklich individuell erscheinen und doch meisten Massenware sind. Auch das so individuelle Tattoo liegt meistens im allgemeinen Trend. Weil Du im Spätkapitalismus nun überhaupt keinen Einfluss mehr auf die eigenen Arbeitsverhältnisse hast und selbst von der Arbeiter*innenbewegung erkämpfte Mitbestimmungsrechte oft keine Gültigkeit mehr haben, stürzt sich das postmoderne Individuum mit umso grösserer Begierde auf die Gestaltung der eigenen Frisur, des eigenen Tattoos und des T-Shirts. Ein Teil des liberalen Feminismus und der liberalen Queerbewegung macht dabei mit. In den USA stellten sie sich fast bedingungslos hinter Hillary Clinton, in Deutschland lernten sie vor Jahren Merkel zu lieben.

Der Reformismus von Judith Butler
Die marxistische Feministin Andrea Trumann arbeitet in ihren Beitrag gut heraus, wie dieser prokapitalistische Turn im Feminismus schon bei der postmodernen Theoretikerin Judith Butler angelegt war. Dabei handelt es sich aber keineswegs um einen Totalverriss der Theoretikern, die in den 1990er Jahren mit dem Anspruch angetreten ist, alle Identitäten zu dekonstruieren. «Wenn selbst das natürliche Geschlecht nicht mehr als unabänderlich gilt, dann ist alles möglich. Die Welt kann aus den Angeln gehoben werden», beschreibt Trumann die Anziehungskraft dieser Ideologeme auf eine moderne bürgerliche Schicht. Für sie stand nicht mehr die grundlegende Gesellschaftsveränderung auf der Agenda. Schliesslich hatte sich das TINA-Denken «There is no Alternative» in den Köpfen der Menschen festgesetzt. Dann kann man wenigstens die eigene Identität, das eigene Geschlecht ändern, war die Devise und der Dekonstruktivismus war ein Schlüssel dazu. Dass erklärt die enorme Popularität von Butter und ihren Theorieansatz, der die Begriffe, aber nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse verändern will.
Trumann bringt die Kritik an diesen Ansatz prägnant auf den Punkt, wenn sie Butlers Ansatz als systemimmanent betrachtet: «Denn es ist nicht die heterosexuelle Matrix, die das binäre Geschlechtsverhältnis hervorgebracht hat, sondern dieses entwickelte sich erst, als sich die kapitalistische Produktionsweise mit ihrer Trennung von privat und öffentlich durchsetzte. Für die Herausbildung des Geschlechterverhältnisses ist besonders relevant, dass dieses wesentlich durch die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft zur Profitmaximierung bestimmt ist.»

Linke Gegenentwürfe
Die Politikwissenschaftlerin Lisa Yashodharo Haller fragt, warum linke Feministinnen «einen männlichen Phantasma von Autonomie» hinterher eifern, anstatt «sich um linke Gegenentwürfe zum derzeit tonangebenden liberalen Feminismus zu bemühen?» Sie beantwortet die Frage damit, dass man dann schnell an die immanenten Grenzen von Gleichstellungspolitik stösst. Sie benennt die Ursache: «Dieser Grund heisst Kapitalismus». Darüber sind sich die Autor*innen in dem Buch einig. Neben der fundierten Kritik am liberalen Feminismus gibt es auch Raum für die von Haller geforderten linken Gegenentwürfe zum liberalen Feminismus. So setzt sich Anna Stiede für eine «leidenschaftliche, feministische Klassenpolitik» ein, in der es sich der Begriff der Bewegung auch die Körper bezieht. Sie sieht in Performances und Tanz wichtige Ausdrucksformen für eine neue Linke. Juliana Moreira Streva Einblicke in die feministische Debatte und Praxis in Lateinamerika.
Verena Letsch und Isabell Merkle versuchen in ihren Beitrag Elemente des auch von links vielkritisierten Differenzfeminismus für eine neue linke Bewegung fruchtbar zu machen. «Für weitere Auseinandersetzungen um einen kämpferischen Feminismus ist es bedeutsam, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse es nicht nur erlauben, sondern sogar einfordern, weiterhin von einer Kollektivkategorie Frau zu sprechen», schreiben die beiden Autorinnen. Die linke Autorin Bini Adamczak will «mit einer dekonstruktivistischen Brille auf marxistisch-feministische Theorien schauen, um in ihnen eine Radikalität freizulegen». Adamczak betont die wichtige Rolle, die feministische Bewegung weltweit im Kampf gegen die rechte Konterrevolution spielen. Sie erwähnt feministische Mobilisierung in Spanien, Uruguay, Chile, Pakistan, Irland und den USA. Mit den Frauen*streiktag am 14. Juni 2019 haben sich auch Schweizer Frauen* in diese Kette eingereiht.
Das Buch liefert Diskussionsstoff für einen materialistischen Feminismus auf der Höhe der Zeit, der nicht nur den Rechten, sondern auch den prokapitalistischen Kräften in der feministischen Bewegung Paroli bieten kann. Die Neuformierung eines solchen linken Feminismus ist auch eine Kampfansage an manche Linke, die den Kampf der Frauen* gegen Patriarchat und Kapitalismus noch immer als Nebenwiderspruch oder Identitätsgetue abwerten wollen.