Peter Kern - Dorfansicht mit Nazis Hentrich & Hentrich - 280 S., brosch. ISBN: 978-3-95565-647-8 Berlin Leipzig 2024 - 24,90 Euro

Dorfansicht mit Nazis

Peter Kern hat in seinem Buch nicht nur seine Emanzipationsgeschichte in der Pfalz beschrieben, er hat auch eine Geschichte der pfälzischen Jüdinnen und Juden verfasst.

„Ab in die Kaschee“, die Kinder sollten zu Bett gehen. Vater hatte zu Ende erzählt. Seine Kaschee stand unter der Dachschräge, sein Gitterbett“ (S. 9).
Mit diesen Sätzen führt uns Peter Kern ein in das pfälzische Dorf Rodalben, in dem er mit …

… seinem Bruder und vielen Verwandten seine Kindheit und Jugend verbrachte. „Die Kinder des Dorfs kannten drei Feste im Jahr, eins schöner als das andere: Kirmes, Karneval und Silvester“ (S. 15). Kern führt die Leser*innen
mit seiner anschaulichen Erzählweise in eine Welt, in der das Schlachten der Schweine ein Ereignis ist, an dem das ganze Dorf Anteil nimmt und die Kirche das Leben der Menschen wesentlich bestimmt. Um zu wissen, wie spät es ist, brauchte man nur die Glockenschläge der Kirche zu hören, die alle hören konnten oder mussten. Aber die Kirche bestimmte auch die Gedanken der Menschen. „Vor Ostern mussten alle Sünden noch raus. Das schwarze Gesangbuch wies vorne den Beichtspiegel auf. Ein Beichtspiegel, der hält einem den Spiegel vor. Dort las das Kind, woran es vielleicht nicht gedacht hätte, bevor es samstagsnachmittags in den dunklen Beichtstuhl trat (S. 25). Hier erweist sich Kern als guter Erzähler, der allein mit der Erwähnung der Farbe des Beichtstuhls noch einmal deutlich macht, dass es sich hier um ein Herrschaftsinstrument handelte, vor dem die Menschen Angst hatten. Peter Kern lässt auf ca. 150 Seiten teilhaben, wie aus Peterle, dem Kind, Peter der Junge wurde, dessen Welt sich bald nicht mehr um den Kirchturm und den Beichtstuhl drehen sollte. In den folgenden Kapiteln beschreibt Kern, wie ein junger Mensch im pfälzischen Dorf in den späten 1960er Jahren Marx und den
Republikanischen Club in der nächsten Stadt kennenlernte. „Der Junge brachte schon bald ein ganzes Jahr auf der neuen Schule zu, da machte er eine beglückende Entdeckung. Neben all den Spießern und Angepassten gab es Genossen“ (S. 96). Bald musste der Junge aber erkennen, dass auch Genossen Spießer sein können. Dann war er schon zum Mann geworden, wie er im Buch dann nur noch genannt wird. 30 Jahre später kommt der Mann wieder zurück nach K-Town in eine in manchen Dingen völlig veränderte politische Landschaft. Die Mauer war gefallen und Helmut Kohl war mittlerweile viele Jahre Kanzler.

Geschichte des Pfälzer Judentums

Der zweite Teil des Buches wird zu einer „autobiographisch gerahmten Studie, die in authentisch geschilderte Spuren über einen weitgehend vergessenen Personenkreis der nationalsozialistischen Gewaltpolitik informiert: das pfälzische Landjudentum“, wie der Sozialwissenschaftler Michael Brumlik im Klappentext schreibt. Dabei konnte Kern auf die Arbeit von Peter Conrad zurückgreifen, der seit Jahren die Geschichte der Juden in Rodalben erforscht, sich um die Verlegung von Stolpersteinen kümmert und Spaziergänge zu Orten jüdischen Lebens in dem Ort organisiert. Am Anfang der Beschäftigung mit der Geschichte der Jüdinnen und Juden stand eine Frage, die den politisch aktiven jungen Peter Kern umtrieb. War Tante Antoinette, an die er so viele Kindheitserinnerungen hatte, etwa an der Verfolgung der Juden in Rodalben beteiligt? Der Verdacht entstand, weil in ihrem Haus in der Nazizeit der berüchtigte Gauleiter Josef Bürckel jüdische Familien eingepfercht hatte, bevor
sie in die Vernichtungslager abtransportiert wurden. Bei seiner Recherche stellte sich heraus, dass Tante Antoinette damit nichts zu tun hatte und das Haus viel später kaufte. Aber bei Kern war Interesse an der Geschichte der jüdischen Bevölkerung in der Region bis ins 19. Jahrhundert geweckt. So zeichnet er die Biographie von Julius Moses nach, eines einige Jahre in Rodalben
praktizierenden Arztes, dessen Name in den Kalenderblättern einer Art Dorfchronik nicht erwähnt wird. Dabei hatte sich Julius Moses, der ein Freund von Theodor Herzl war, auf dem Gebiet der Kinderpsychologe einen Namen gemacht. Weil er noch rechtzeitig nach Tel Aviv ausreisen konnte, blieb er vor der NS-Vernichtungspolitik verschont. Noch in hohem Alter erinnerte er sich in seinen letzten Texten an sein Leben in Rodalben. Auch an Ludwig Samuel erinnert Kern in seinem Buch. Der Kaufmann gehörte zu den Honoratioren des Dorfes, saß im Vorstand des Synagogenrats, war Mäzen des Krankenhauses und warnte frühzeitig vor dem Aufstieg der Nazis. Nachdem sie an der Macht waren, wurde er von der Gestapo in Neustadt verhört und wie ein Verbrecher behandelt. 1939 gelang ihm und seiner Frau in letzter Minute ihre Flucht. 1946 besuchte er noch einmal Rodalben „Sein Sohn Fritz spricht von der Verbitterung seines Vaters. Den macht man zum Ehrenbürger des Dorfs, aber sein Eigentum ist unwiderruflich den Herren Bernd und Knecht vermacht“ (S. 203) beschreibt Kern, wie die Profiteure der Arisierung im Dorf auch nach 1945 von geraubtem Besitz profitierten. Von hohem historischem Interesse ist auch ein Briefwechsel der NS-Täter, den Kern in seinem Buch erstmals publik macht
(S. 216ff). Es geht um die jüdische Familie Metzger aus Rodalben, die nach der Arisierung ihres Eigentums bei Verwandten in der Nähe von Göppingen Zuflucht gefunden hatte. Der dortige NSDAP-Bürgermeister wollte sie wieder loswerden und geriet damit mit seinem pfälzischen Amtsbruder in einen heftigen Streit, der sogar das Innenministerium von Württemberg und die Kreisverwaltung der NSDAP beschäftigte. „Die Partei wusste Rat. Sie veranlasste die Deportation der Familien Metzger-Baer von Süßen nach Riga“ (S. 225), schreibt Kern. Nur eine Tochter überlebte und konnte später nach Haifa ausreisen. Kern hat in seinem Buch nicht nur seine Emanzipationsgeschichte in der Pfalz beschrieben, er hat auch eine Geschichte der pfälzischen Jüdinnen und Juden verfasst. /

Peter Nowak

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