Jakob Walcher ist als linker Gewerkschafter nur noch wenigen bekannt. Dabei schreibt der ehemalige SPD-Bundeskanzler Willy Brandt in seiner Biographie: „Walcher war für mich einer der kernigsten Repräsentanten der alten deutschen Arbeiterbewegung: selbstsicher und kulturbewusst, kein blutleerer Intellektueller, sondern ein intelligenter und vitaler Facharbeiter.“ Doch von Walchers Frau erfahren wir auch bei ihm nichts, wie es oft in der Arbeiterbewegung der Fall war (die hier bewusst nicht gegendert wird). Jetzt hat die Theater- und Kulturwissenschafterin Regina Scheer sie mit einer gründlich recherchierten Biographie dem Vergessen entrissen. Ihre Bekanntschaft geht in die …
… Kindertage zurück. „Zwei Ehepaare gab es, die einfach in mein Kinderzimmer kamen und mir Geschenke gaben, die manchmal darauf bestanden, dass ich mit am Tisch saß, mich nach meinen Dingen fragten und aufmerksam zuhörten, als sei ich ihnen wichtig“ schreibt Scheer (S. 10). Eines dieser Ehepaare lernte sie als Tante Hertha und Onkel Jacob kennen. Es handelte sich um Hertha Gordon-Walcher und ihren Mann Jacob Walcher. Schon bald besuchte Scheer das Ehepaar in ihrem Wohnhaus in Hohenschönhausen, das mit Büchern, aber auch mit Erinnerungen an ein bewegtes Leben gefüllt war. Nach dem Tod von Jakob Walcher wurde Scheer für Gordon-Walcher über lange Jahre eine wichtige Gesprächspartnerin. Die beiden Frauen führten stundenlange Unterhaltungen, denn die Seniorin hatte viel zu erzählen. Hertha Gordon Walcher war über viele Jahrzehnte eine Reisende in Sachen Weltrevolution, wie die Schweizer Historikerin Brigitte Studer in ihrer im Suhrkamp-Verlag erschienen Geschichte der Kommunistischen Internationale die Kommunist:innen der ersten Stunde bezeichnete, die ihr Leben dem Kampf für die sozialistische Revolution widmeten. Schon als sehr junge Frau war Hertha Gordon mit genügend Selbstbewusstsein ausgestattet, um einen Brief an Clara Zetkin zu schreiben, weil ihr deren Artikel in der sozialdemokratischen Frauenzeitung Die Gleichheit positiv aufgefallen waren. Was die junge Stenotypistin aus Königsberg, die in London aus der Enge des Elternhauses ausgebrochen war, nicht erwartet hatte: Zetkin antwortete nicht nur auf den Brief der ihr unbekannten Leserin, sie lud sie auch zu sich nach Stuttgart ein. Dieses Angebot nahm die junge Frau einige Zeit später an. Bald wurde sie zur engen Freundin und Beraterin von Clara Zetkin. Es gibt ein Foto, das sie an der Seite der KPD-Abgeordneten Zetkin auf dem Weg zum Reichstag, dem Parlament der Weimarer Republik, zeigt. Die Beziehung hielt einige Jahre und sollte den Lebensweg von Hertha Gordon prägen.
In dem kleinen Haus im Ostberliner Stadtteil Hohenschönhausen waren die Erinnerungsstücke aus den unterschiedlichen Epochen dieses Lebens aufbewahrt, als Regina Scheer dort regelmäßig zu Besuch war. Die Biographin erinnert sich noch heute an die klobigen Ledersessel im Wohnzimmer, die sie an Autositze erinnerten. Später erfuhr sie von der ungewöhnlichen Herkunft dieser Sitze. „Brecht hatte sie aus seinem alten Steyr ausbauen und in der Werkstatt des Berliner Ensembles die Holzgestelle bauen lassen.“ (S. 10.) Nach einem Umbau im Theater wanderten die Sitzgelegenheiten in das Haus der Walchers, die durch ihre politische Arbeit über Jahrzehnte mit Brecht befreundet waren. Jacob Walcher fand sogar Eingang in das Brecht-Weigel-Haus im brandenburgischen Buckow. „Als Brecht mich anrief, war Walcher schon bei ihm, und sie hatten bereits die Lage besprochen“, wird dort der Schriftsteller Erwin Strittmatter auf einer Tafel zitiert. Es ging um den 17. Juni 1953, als Arbeiter:innen gegen den autoritären SED-Staat auf die Straße gegangen waren. Dass Brecht in diesen Tagen den Austausch mit Jacob Walcher suchte, ist kein Zufall.
Antistalinistische Kommunist:innen
Er war ihm nicht nur als Kommunist bekannt, der sich seit seiner Politisierung im ersten Weltkrieg in Stuttgart mit Gewerkschaftsfragen befasste. Brecht wusste auch, dass Walcher in der Weimarer Zeit gegen die Stalinisierung der KPD opponierte und deshalb aus der Partei ausgeschlossen wurde. Er engagierte sich danach in verschiedenen linken Kleinstparteien wie der Kommunistischen Partei Opposition (KPO) und der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP). Auch Hertha war in diesen Gruppen engagiert. Hier lernten sie auch den jungen Willy Brandt kennen und waren mit dem jungen Sozialisten eng befreundet. Doch bald trennten sich ihre politischen Wege. Im Exil in den USA setzten sich die Walchers für die Einheit aller Sozialist:innen und Kommunist:innen ein. Im Nachkriegsdeutschland wollten sie beim Aufbau des Sozialismus in der DDR mitwirken und wurden Mitglieder der SED. Willy Brandt hingegen machte in der westdeutschen SPD Karriere. Er war damit nicht allen. Scheer schreibt über Walchers langjährigen SAP-Genoss:innen. „Rosi Wolfstein und Paul Fröhlich, auch Josef Lang und Erna Halbe, die inzwischen geheiratet hatten, kehrten erst 1950 nach Deutschland zurück, aber nicht in die inzwischen gegründete DDR, sondern nach Frankfurt am Main. […] Und Fritz Lamm, der im November 1949 von Kuba nach Stuttgart zurückkehrte, wurde Betriebsratsvorsitzender der Stuttgarter Zeitung und ging auch in die SPD. Aus der wurde er 1963 ausgeschlossen, aber das war in einer anderen Zeit, da verband ihn nichts mehr mit Hertha und Jakob als die Vergangenheit“ (S. 472). Ob diese Einschätzung von Scheer in Bezug auf den undogmatischen Sozialisten Lamm zutrifft, ist fraglich. Auf jeden Fall aber ist damit das Verhältnis von Willy Brand und den Walchers gut beschrieben, was aber die oben erwähnte freundliche Erwähnung in der Brandt-Biographie nicht ausschloss.
Die Walchers wurden wegen ihrer antistalinistischen Haltung, die sie nicht verschwiegen, in der SED in den 1950er Jahren heftig angefeindet und Jakob für einige Jahre aus der Partei ausgeschlossen. Dass alles erfahren wir von Regina Scheer aus dem Blickwinkel von Hertha Gordon-Walcher. Sie hat Regina Scheer bei ihren vielen Besuchen in ihrem Haus bis kurz vor ihren Tod von dieser bewegten Geschichte berichtet. Dabei macht Scheer deutlich, dass Hertha Gordon-Walcher nicht nur die Sekretärin ihres Mannes war, die seine Texte abtippte und redigierte. Scheer zeigt sie als selbstbewusste Frau, die sich neben ihrer Arbeit schon als junge Frau für Kultur interessierte, Museen besuchte und Bücher und Zeitungen las. Sie gehörte zu einer Generation von Sozialist:innen, für die Bildung ein wichtiges Werkzeug war, um die Welt zu erkennen und zu verändern. Regine Scheer zeigt in dem Buch auf, dass nicht wenige der Wunden, die sie sich in diesen Kampf zuzogen, auch von den eigenen Genoss:innen kamen. Darauf verweist auch der Titel „Bitterer Brunnen“.
Als Jakob Walcher 1970 starb, war er von der SED wieder vollständig rehabilitiert und mit einigen Auszeichnungen bedacht. Im hohen Alter konnte er noch einmal nach Stuttgart reisen. In die Stadt, in der er in jungen Jahren zum linken Flügel der SPD gehörte und später über die USPD zur KPD gefunden hatte, recherchierte er im Auftrag der DDR-Forschungsstelle zur Geschichte der Arbeiterbewegung über ein Stück linke Geschichte, die er selbst mitgestaltet hatte. Dazu befragte er alte Genoss:innen, die weiter in Stuttgart und Umgebung lebten. Sollte er da keine Kontakte zu dem ehemaligen Genossen Fritz Lamm aufgenommen haben, der damals eine wichtige Stimme der unabhängigen Sozialisten in Stuttgart war? Seine Arbeit wurde in der DDR nicht mehr veröffentlicht, aber durch Walchers Recherche blieben die Erinnerungen vieler linker Veteran:innen erhalten. Das ist auch die große Leistung von Regina Scheer. Sie hat Hertha Gordon-Walcher, die mit 96 Jahren am 27. Dezember 1990 starb, drei Jahrzehnte nach ihrem Tod dem Vergessen entrissen.
* Peter Nowak ist freischaffender Journalist und Aktivist
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