Wolfgang Hien: Eine Revolte der Natur. Gesellschaftskritik in Zeiten einer Pandemie, Berlin, Verlag Die Buchmacherei, 2022, 109 Seiten, 8 Euro.

Lockdown in solidarischer Variante

In der Pandemie reichten linke Positionen von Zero Covid bis hin zur Isolation vulnerabler Gruppen zugunsten der Freiheit der Übrigen. Eine neue Publikation bietet jetzt Diskussionsansätze zu linken Perspektiven auf Gesundheit im Kontext von politischer und ökonomischer Unterdrückung

Zu Beginn der Corona-Pandemie spaltete die Haltung zu staatlichen Lockdowns und Impfungen die linke Szene. Wer kritische Fragen zur Sinnhaftigkeit mancher Maßnahme hatte, wurde schnell Corona-Leugner*innen zugeordnet. Umgekehrt wurden Linke, die daran erinnerten, dass durch Impfungen historisch viele schwere Krankheiten ihren Schrecken verloren haben, ins Lager der staatstreuen Lämmer eingeordnet. Statt kritischer Diskussionen und argumentativen Streits überwogen Ausgrenzung und Diffamierung. Umso mehr ist es zu begrüßen, dass Wolfgang Hien mit seinem neuesten Buch jetzt ein knapp 100-seitiges Diskussionsangebot vorgelegt hat. Der Publizist Gerhard Hanloser spricht im Vorwort von …

… »wertvollen Beiträgen für eine Linke, die sich kritisch mit der proletarischen Existenzweise und ihrer zunehmenden Prekarisierung auseinandersetzt«. Buchautor Hien betont, dass er die gesundheitlichen Gefahren durch die Covid-Pandemie auf globaler Ebene durchaus dramatisch einschätzt. Deshalb unterstützte er auch die im Januar 2021 entstandene Zero-Covid-Initiative, die einen solidarischen Lockdown propagierte. Doch der Bremer Arbeitswissenschaftler bleibt offen für die Argumente der Kritiker*innen, die vor einer autoritären Staatlichkeit warnen. Allerdings wendet er sich gegen das Ausspielen der Freiheit gegen die Gesundheit. Dabei bezieht er sich auf manche Linke, die die Corona-Pandemie als leichte Grippe abtun wollten. Der Autor fragt auch nach Gründen für die Schockstarre großer Teile der Linken in der Pandemie: »Meine These ist, dass ein wichtiges Moment dieser Verunsicherung die Unfähigkeit ist, die Gesundheitsschutzperspektive als elementaren Teil linker Politik zu begreifen«, schreibt Hien. Er plädiert dafür, sich an Rosa Luxemburg ein Beispiel zu nehmen, die einst dazu aufrief, »alle Maßnahmen zu unterstützen, die die ökonomische, soziale und gesundheitliche Lage der arbeitenden und in Abhängigkeit lebenden Menschen verbessern«, wie sie in ihrer Schrift »Sozialreform oder Revolution« schrieb.  Auch Hien richtet das Augenmerk auf die gesundheitliche Lage der abhängig Beschäftigten. Ausführlich zitiert der langjährige Autor des Verlags für das Studium der Arbeiterbewegung aus einer Untersuchung über die Gefährdungslage im Pflegebereich, die er gemeinsam mit Hubertus von Schwarzkopf 2020 erstellt hatte. Demnach hat nicht nur das Coronavirus, sondern auch die Isolation durch den Lockdown zur Verschlechterung der Gesamtsituation im Pflegebereich beigetragen: »Die Kontaktsperren und Besuchsverbote in Alten- und Pflegeheimen müssen zweifelsohne als gravierende Einschränkungen von Freiheitsrechten gewertet werden.« Zu Recht weist Hien darauf hin, dass sich viele Lockdown-Kritiker*innen für eine noch rigorosere Isolierung der alten und vulnerablen Menschen zu deren eigenem Schutz ausgesprochen haben. Außerdem setzt er sich kritisch mit Positionen von Arbeiter*innen auseinander, die sich eher über die Schutzmaßnahmen als über das Virus Sorgen machten. Er sieht hier Parallelen zu Arbeiter*innen, die sich überzeugt gaben, dass Asbest oder bestimmte Chemikalien für sie ungefährlich wären und dann schwer erkrankten. Hier kann Hien auf seine Erfahrungen als einer der Pioniere der Arbeiter*innengesundheitsbewegung zurückgreifen. In den 1980er Jahren unterstützte er Basisinitiativen von Beschäftigten vor allem in der Chemieindustrie, die den Gesundheitsschutz in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen wollten und damit auch bei vielen ihrer Kolleg*innen auf Widerstand stießen. Gegen die anerzogene Härte in der Arbeiterkultur plädiert Hien für eine »körperlich-seelische Sensibilität«, die Beschwerden nicht mit Tabletten oder Alkohol betäubt, sondern ernst nimmt und zum Ausgangspunkt für eine Gesellschaftsveränderung macht. Diese Diskussion führt Hien mittels medizingeschichtlichen, politischen und philosophischen Überlegungen fort, die sich auf Schriften der Kritischen Theorie stützt. Der Titel »Eine Revolte der Natur« ist einer Schrift von Max Horkheimer entlehnt. Im letzten Kapitel über die Grenzen der menschlichen Naturbeherrschung erweist sich Hien auch als profunder Kenner der Theologie der Befreiung und der Literatur der Romantik. Es ist zu hoffen, dass das Buch dazu beiträgt, dass manche abgebrochenen Debatten in der Linken wieder geführt werden. Peter Nowak

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