Schwachstellen der aktuell gebräuchlichen Definition von Antisemitismus

Unzureichend erfasst

»Insbesondere wenn unter Bezugnahme auf die ›Arbeitsdefinition‹ Eingriffe in Grundrechte wie das der freien Meinungsäußerung oder der Versammlungsfreiheit begründet werden, (...) müssten die juristischen Voraussetzungen eines jeden solchen Eingriffs, nämlich die Grundsätze der Normenklarheit und -bestimmtheit, erfüllt sein«, formuliert das Gutachten eine Kritik, die bereits auch von zahlreichen Gruppen und Einzelpersonen vorgebracht wurde.

Spätestens seit dem Anschlag eines Neonazis auf die Synagoge in Halle steht die Bekämpfung des Antisemitismus wieder im Fokus von Politik und Zivilgesellschaft. Doch was ist Antisemitismus? Diese Frage bleibt weiterhin strittig. Jetzt hat der Politikwissenschaftler Peter Ullrich für die Rosa-Luxemburg-Stiftung ein Gutachten herausgegeben, das sich….

….. kritisch mit der Arbeitsdefinition Antisemitismus beschäftigt, die 2016 von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) anerkannt worden ist.
Wörtlich lautet die Definition: »Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.«
Diese Antisemitismusdefinition wurde in der letzten Zeit zur Arbeitsgrundlage vieler politischer und zivilgesellschaftlicher Initiativen, weil sie mit anschaulichen Beispielen den Begriff Antisemitismus verdeutlicht, betont Ullrich. So werde zudem verdeutlicht, dass Juden und Jüdinnen im Antisemitismus in Kollektivhaftung für Taten oder Verhaltensweisen anderer jüdischer Menschen genommen werden.

Doch der Politikwissenschaftler attestiert der Antisemitismusdefinition auch Schwachpunkte und Auslassungen. Dabei bezieht er sich auf Begriffe und Formulierungen. So moniert Ullrich, dass im ersten Satz der Definition eine bestimmte Wahrnehmung von Juden und Jüdinnen als Antisemitismus definiert wird. »Antisemitismus kann in dieser Wortwahl als ein mehr oder weniger passiver Vorgang der sinnlichen Erfahrung mit Juden und Jüdinnen verstanden werden«, kritisiert Ullrich. Mit Verweis auf die Antisemitismusforschung betont er, dass das antisemitische Zerrbild gerade keine sinnliche Wahrnehmung, sondern ein Ergebnis von Projektionen ist.Der Politikwissenschaftler weist in dem Gutachten auch darauf hin, dass zahlreiche Ebenen von Antisemitismus durch die Definition nicht oder nur unzureichend erfasst sind. So würden antisemitische Kampagnen von politischen Bewegungen und Parteien ebenso ausgespart wie Gesetze, die Juden und Jüdinnen diskriminieren.
Auch der in Verschwörungstheorien enthaltene Antisemitismus könne mit der Definition nicht erfasst werden. Ullrich geht auch auf Abgrenzungsprobleme beim israelbezogenen Antisemitismus ein. Wo endet legitime Kritik an der Politik der israelischen Regierung? Dass es dabei nicht nur um theoretische Definitionsprobleme geht, wird im hinteren Teil des mit Anhang knapp 20-seitigen Gutachtens deutlich. Dort geht es um Raum- und Veranstaltungsverbote von propalästinensischen Veranstaltungen, die mit Verweis auf die Antisemitismusdefinition in zahlreichen Städten erlassen wurden.
»Insbesondere wenn unter Bezugnahme auf die ›Arbeitsdefinition‹ Eingriffe in Grundrechte wie das der freien Meinungsäußerung oder der Versammlungsfreiheit begründet werden, (…) müssten die juristischen Voraussetzungen eines jeden solchen Eingriffs, nämlich die Grundsätze der Normenklarheit und -bestimmtheit, erfüllt sein«, formuliert das Gutachten eine Kritik, die bereits auch von zahlreichen Gruppen und Einzelpersonen vorgebracht wurde.

Peter Nowak

Das Gutachten kann hier heruntergeladen werden:

https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/rls_papers/Papers_3-2019_Antisemitism.pdf