In einem eigenen Kapitel setzt sich Rein kritisch mit der auch von linken Wissenschaftler_innen vertretenen Meinung auseinander, dass arme Leute nicht in der Lage sind, sich politisch zu artikulieren.
Rein setzt sich auch kritisch mit jener Marienthal-Studie von Anfang der 1930er Jahre auseinander, auf die sich viele linke Wissenschaftler_innen beziehen, wenn sie armen Menschen absprechen, sich selbstständig politisch organisieren zu können. Marienthal war ein österreichisches Dorf, in dem nach der Pleite einer großen Textilfabrik ein Großteil der Bewohner_innen erwerbslos wurde. Resignation und Apathie bei einem Großteil der Bewohner_innen waren die Folge, so das Ergebnis der Studie, das Rein nicht bestreitet. Er kritisiert allerdings, dass sie unzulässig verallgemeinert worden seien. Vor allen in Großstädten und bei jüngeren Menschen hätte Erwerbslosigkeit statt zu Apathie zu Lebensperspektiven jenseits der Lohnarbeit geführt. Sehr kenntnisreich und detailliert beschreibt Rein, wie sich Erwerbslose nach der Novemberrevolution von 1918 in eigenen Räten organisieren und von den Gewerkschaften selbstbewusst Unterstützung und Solidarität forderten. Rein zeigt aber auch auf, dass die Spitzen der Gewerkschaften und der SPD schon früh auf Distanz auf Erwerbslosenorganisationen gingen, die auf ihre Autonomie bestanden. Sehr differenziert beschreibt Rein die Erwerbslosenpolitik der KPD und ihr nahestehender Organisationen in der Weimarer Republik. Er lehnt die häufig von Historiker_innen bemühte These ab, dass die KPD die Erwerbslosen nur instrumentalisiert habe. Der Autor zeigt vielmehr an Hand von Dokumenten auf, dass kommunistische Kommunalpolitiker_innen sehr konkrete Maßnahmen für Erwerbslose erkämpften. Daneben widmet sich Rein der libertären Strömung der Erwerbslosenbewegung, auf die sich auch die autonome Erwerbslosenbewegung der 1980er Jahre berief, in der Rein seit Jahren aktiv ist. Im Unterschied zu den gewerkschaftsnahen Strömungen sehen sie nicht die fehlende Erwerbsarbeit sondern das fehlende finanzielle Einkommen als ihr Hauptproblem. Rein listet die unterschiedlichen Themenfelder der jüngeren Erwerbslosenbewegung auf, die im Spätsommer 2004 im Kampf gegen die Agenda 2010 für einige Wochen noch einmal zu einer Massenbewegung angeschwollen war. Daneben richtet Rein den Blick auf den Alltagswiderstand von Erwerbslosen, der sich rund um die Jobcenter abspielt. Das können kurzeitige Go-Ins ebenso sein wie eine oder Begleitaktionen von Betroffenen.
Es ist zu hoffen, dass sich manche durch die Lektüre des Buches ermutigt vielen, solche Schritte der Selbstermächtigung zu unterstützen. Denn mittlerweile versuchen auch die Rechten um die Armen zu werben und machen Geflüchtete für ihre Situation verantwortlich. Es stimmt schon, wenn Rein feststellt, dass immer noch hauptsächlich von Absturz bedrohte Mittelständler_innen die AfD wählen und viele Arme gar nicht zu den Wahlen geben. Aber es gibt auch die Beobachtung des Erwerbslosenberaters Harald Thome, der beobachtete, wie Menschen, die sich nie für Wahlen interessierten, sich vor der letzten Bundestagswahl als AfD-Unterstützer_innen outeten. Auf die Frage, wieso sie diese im Kern wirtschaftsliberale Partei die Stimme geben wollen, sagten sie nur. Sie erwarten nichts von der AfD aber sie wollen die da Oben ärgern. Eine kämpferische Organisierung von armen Menschen wäre ein sehr konkretes Projekt gegen rechts.
Wenn arme Leute sich nicht mehr fügen…!
Bemerkungen über den Zusammenhang von Alltag und Protest
ISBN 978-3-945959-25-1 / 2017 / 184 Seiten / 14,80 Euro