
„Dieser kleine gedrungene unauffällige Mann mit dem ausdrucksvollen Kinn und den hinter einer Brille mit dünnen Metallrahmen versteckten flinken Augen, der mit seinem seltsam wiegenden Gang eher einem Seemann ähnelte, war einer der standhaftesten und klügsten Menschen, die ich in meinen Leben kennenlernte« – Mit dieser Eloge beschrieb der Wissenschaftler Jiří Hájek 1984 den in Harburg geborenen …
… Kesselschmied Harry Naujoks. Die beiden lernten sich im NS-Konzentrationslager Sachsenhausen kennen. Dort hatte der langjährige Kommunist Naujoks die Funktion des Lagerältesten inne, während Hájek zu den tschechischen Studierenden gehörte, die im Jahr 1939 verhaftet
wurden. Dass die überwiegend politisch unerfahreneren jungen Leute dort überleben konnten, hatten sie Männern wie Harry Naujoks zu verdanken, der seine Funktion als Lagerältester nutzte, um auch an diesem Ort internationale Solidarität zu praktizieren. Hájek ist nicht der Einzige, der sich noch Jahrzehnte später mit Dankbarkeit an Naujoks erinnerte. Naujoks war Vorsitzender des Sachsenhausenkomitees der BRD, im Internationalen Sachsenhausenkomitee und der VVN – später VVN-BdA – aktiv. 1987 veröffentliche Naujoks seine Erinnerungen als Lagerältester unter dem Titel »Mein Leben in Sachsenhausen« im Röderberg-Verlag und zwei Jahre später im Dietz-Verlag in der DDR. Beide Bücher hatten Einfluss auf die Forschung über die Geschichte des KZ-Systems der Nazis. In vielen Forschungen wurden Naujoks Schriften als Quelle genutzt, und es wurde betont, dass er ein besonders glaubwürdiger Chronist des NS-Terrorsystems ist. Jetzt können nicht nur Naujoks längst vergriffene Schriften wieder gelesen werden. Zu verdanken ist die Herausgabe der Gruppe »Kinder des Widerstands«, in der sich Nachkommen von NS-Widerstandskämpferinnen zusammengeschlossen haben, darunter der Sohn von Harry Naujoks. Sie nahmen Kontakt mit Henning Fischer auf, der mit dem Buch »Frauen im Widerstand. Deutsche politische Häftlinge im Frauen-KZ Ravensbrück. Geschichte und Nachgeschichte« ein wichtiges historisches Zeugnis zu den Antifaschistinnen veröffentlichte, ohne in eine Heldinnengeschichte zu verfallen. Mit dieser Perspektive ist Fischer auch an die Arbeit zu den Naujoks herangegangen. In den beiden Bänden »Martha und Harry Naujoks: Zwei Leben für die Befreiung« können wir auf mehr als 1.400 Seiten über die Lebensgeschichte der beiden lesen. Martha war wie ihr Mann seit ihrer Jugend Kommunistin, konnte anders als er in die Sowjetunion migrieren, wo sie Funktionen in der kommunistischen Bewegung übernahm. Doch auch dort blieb sie nicht vor Verfolgung geschützt. Wie viele überzeugte Kommunistinnen geriet sie in die Maschinerie der stalinistischen Verfolgungen. Sie gehörte zu den wenigen, die sich erfolgreich gegen ihren Ausschluss aus der kommunistischen Partei wehrten. Über viele Jahre war
sie davon ausgegangen, dass ihr Mann im Konzentrationslager ermordet wurde. Bis sie kurz nach dem Ende der Nazizeit erfuhr, dass Harry lebte. Der machte sich geschwächt von der KZ-Haft, die e r zunächst in Sachsenhausen dann in Flossenbürg erleben musste, auf den langen Weg zurück nach
Hamburg und stürzte sich in die Parteiarbeit. Doch er wurde in der Partei kaltgestellt, weil er in der Weimarer Zeit ebenso wie Martha der Strömung der sogenannten Versöhnler angehört hatte, also nicht immer auf Parteilinie lag. Martha und Harry blieben Parteimitglieder, zogen sich aber aus der Parteiarbeit zurück. Das war im Nachhinein ein Glücksfall, weil Harry Naujoks so Zeit fand, sich neben seiner Berufstätigkeit und seiner geliebten Gartenarbeit der Geschichte des antifaschistischen Widerstands zu widmen, dabei immer begleitet von Martha, die aber meist im Hintergrund blieb. In den beiden Bänden wird nun kritisch rekonstruiert, mit welch großem Aufwand sich die Naujoks dieser Geschichtspolitik widmeten. Dazu gehörten die sogenannten Kumpelgespräche, bei denen sich über mehrere Jahre hinweg ehemalige Sachsenhausen-Häftlinge wöchentlich trafen, um ihre Erlebnissen im KZ aufzuzeichnen und gemeinsam zu diskutieren. So wurden Naujoks’ Erinnerungen zu einem so glaubwürdigen Zeugnis auch für die Forschung.
Beeindruckend ist auch, dass er differenziert über die einzelnen Häftlingsgruppen berichtete. Dazu gehören die als kriminell oder als asozial
verfolgten Häftlinge. Er lieferte wichtige Impulse für eine Forschung, die nicht die unterschiedlichen Häftlingsgruppen gegeneinander ausspielt. Für ihn war maßgeblich, wie sich die einzelnen Häftlinge im KZ-Alltag verhielten. In den nun vorliegen Bänden wird die Entstehung diese Erinnerungen kritisch rekonstruiert. 47 Beiträge zum Thema Faschismus von unterschiedlichen linken Autorinnen machen das Kompendium zu einem Lesebuch über Widerstand und Verfolgung. Die beiden Bände setzen Maßstäbe, wie in einer Zeit, in der die Zeitzeuginnen nicht mehr leben, mit der Geschichte des antifaschistischen Widerstands umgegangen werden könnte.
Peter Nowak