Arns David E.: Der Weg in die NS-Diktatur. Die Geschichte von Pfungstadt 1928 bis 1933. Die Buchmacherei, Berlin 2024, 267 Seiten, ISBN: 978-3-9825440-5-2, 16 Euro. William, Sheridan Allen: Das haben wir nicht gewollt! – Die nationalsozialistische Machtergreifung in einer Kleinstadt 1930 – 1935. Die Buchmacherei, 332 Seiten, ISBN 978-3-9823317-5-1, 16 Euro.

»Demokratie stirbt im Mittelstand« – über zwei Lokalstudien zur Geschichte des Nationalsozialismus

Was der Historiker hier für die südhessische Kleinstadt konstatiert, kann verallgemeinert werden. Der Faschismus kann nur mit Unterstützung des Bürgertums an die Macht kommen, wenn die organisierten Arbeiter:innen demobilisiert sind oder zerschlagen wurden.

Wer sich in den 1960er Jahren in der BRD mit der Verbrechensgeschichte des NS beschäftigte, erfuhr massiven Widerstand bis hin zu Morddrohungen. Das passierte auch Reinhard Strecker, der 1959 gemeinsam mit Kommiliton:innen und studentischen Organisationen die Wanderausstellung …

… „Ungesühnte Nazijustiz“ erstellt hatte. Die Täter:innen, die damals noch in allen Institutionen in Amt und Würden saßen, wollten von Schuld, Sühne und Aufarbeitung ihrer Verbrechen nichts wissen. Alle, die sich damals mit den NS-Verbrechen befassten, galten als Handlanger der DDR. Sie wurden ebenso bekämpft wie die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), gegen die es sogar Verbotsforderungen gab. Schließlich waren dort besonders viele Kommunist:innen vertreten. So ist es nicht verwunderlich, dass es oft US-amerikanische Historiker waren, die schon Mitte der 1960er Jahre die Erforschung des Naziterrors in Deutschland vorantrieben. William Sheridan Allen verfasste bereits 1965 ein Buch über den Weg des niedersächsischen Städtchens Northeim in den Nationalsozialismus. Seine Arbeit ist kürzlich unter dem Titel „Das haben wir nicht gewollt! Die nationalsozialistische Machtergreifung in einer Kleinstadt 1930 – 1935“ im Verlag die Buchmacherei wieder erschienen. 1965 musste der Autor nicht nur die Namen aller Protagonist:innen, sondern auch den Namen der Stadt anonymisieren. Aus Northeim wurde Thalburg. 20 Jahre nach dem Ende des NS-Regime waren überall in der BRD viele ehemalige Nazis noch oder wieder in wichtigen Positionen, und sie wollten die Vergangenheit beschweigen. Sie verlangten Anonymität, denn Allen war es zu Beginn der 1960er Jahre gelungen, „das Vertrauen von prominenten wie unbedeutenden Leuten, die nach 1930 mitmachten oder auch dagegen waren, zu gewinnen“, heißt es auf der Rückseite des Buches. Kein Vertrauen hatte Sheridan Allen in die wenigen Kommunist:innen von Northeim. Sie werden im Buch nur als weltfremde Fanatiker:innen dargestellt, die mindestens ebenso für die Zerstörung der Weimarer Republik verantwortlich waren wie die Nazis. Hier agierte der Autor ganz auf dem Boden der Totalitarismustheorie. Im Vorwort schreibt Allen, dass er sich frage, „wie eine zivilisierte Demokratie in eine nihilistische Diktatur getrieben werden konnte“ (S. 17). Dabei benennt Allen, was die Nazis für die Einwohner:innen der Kleinstadt attraktiv machte: „Für die meisten Thalburger war die NSDAP zuerst und vor allem eine antimarxistische Partei (S. 43). Das machte die Nazis auch für das Bürgertum und große Teile des Kleinbürgertums attraktiv, die schon in der völlig angepassten SPD Sozialisten sahen, die sie mit allen Mitteln bekämpfen wollten. „Ihre Führer, die in der Stadtverordnetenversammlung saßen, hatten unvorstellbare Berufe: Öler, Gewerkschaftssekretär, Streckengeher. Gesellschaftlich kam man nie zusammen, aber da saßen sie im Rathaus – empfindlich, aggressiv, fordernd. Sich diesen Aposteln der Gleichheit zu widersetzen, war in Krisenzeiten unbedingt notwendig“ (S. 43), beschreibt Allen die Einstellung, die große Teile des Bürgertums zu Nazis der ersten Stunde machte.

Aber die Recherchearbeit von Allen hatte noch eine weitere Auswirkung. Sie motivierte seinen Doktoranden David E. Arns, 1972 die Regionalstudien fortzusetzen. Er wählte das südhessische Pfungstadt zum Forschungsobjekt. Ein Grund waren die verwandtschaftlichen Beziehungen. Gudrun Kahl, die Frau von Arns, stammte aus einer bekannten bürgerlichen Pfungstädter Familie und öffnete ihrem Mann manche Türen zu Menschen in der Stadt, die ihm von der Entwicklung in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren berichten konnten.

Arns beschreibt seine Forschungsarbeit so: „Pfungstadt ist eine kleine deutsche Stadt, die bisher in den Geschichtsbüchern weder in der Weimarer Republik noch während des Dritten Reiches Erwähnung gefunden hat. Basierend auf den Bemühungen von Menschen in Städten wie Pfungstadt […] errichteten die Mitglieder der NSDAP eine politische Struktur, die bis an die Spitze reichte, an der Adolf Hitler stand“ (S. 14ff). Am Beispiel von Pfungstadt arbeitet der Historiker klar heraus, wer den Nazis den Weg an die Macht ebnete: „Die Demokratie starb in Pfungstadt aufgrund der kurzsichtigen Sichtweise der Mittelschicht, einer Kurzsichtigkeit, die durch die scheinbar unlösbare Wirtschaftskrise verursacht wurde“ (S. 15).

Arns beschreibt, wie die Faschisierung des Mittelstands in Arnstadt schleichend beginnt. Bis zum Ende der 1920er Jahre hatte die Ortsgruppe der NSDAP keinen Einfluss auf die Politik der Stadt. Das sollte sich 1928 ändern. „Die NSDAP sah ihr Hauptziel darin, die starke Position der Arbeiterschaft zu brechen. Sie vergaß den Mittelstand nicht. Am 25. Januar 1928 erschien im Pfungstädter Anzeiger ein kleiner Artikel mit der Überschrift ‚Mittelstand erhebe Dich‘“ (S. 51). Arns beschreibt, wie wirtschaftsnahe Organisationen zunächst auf ihre parteipolitische Neutralität pochten. Ihr Hauptangriffspunkt war die in SPD und KPD gespaltene Arbeiter:innenbewegung, aber auch die Gewerkschaften. Sie polemisierten gegen zu hohe Ausgaben, beklagten die angeblich untragbaren Belastungen der Wirtschaft. Jeglicher Sozialpolitik sagten sie den Kampf an; besonders die in wachsender Zahl vorhandenen Erwerbslosen sollte zu Zwangsdiensten herangezogen werden. Arns zeigte in dem Buch, wie die nach ihren beiden Hauptprotagonisten Steinmetz-Martin-Liste, die die ortsansässigen Geschättsleute und Fabrikanten vertrat“ (S. 49) genannte Wähler:innengemeinschaft den Klassenkampf von oben immer mehr verschärfte. Dabei gab sie sich immer als Stimme der wirtschaftlichen Vernunft aus, die die sich gegen eine ideologiebetriebene Politik wehrte, die angeblich das Gemeinwohl schädigen würde. Das war eine Kampfansage an beide Flügel der Arbeiter:innenbewegung, die Gewerkschaften, aber auch die Organisierungsversuche von Erwerbslosen, deren Zahl nach 1930 im Zuge der Weltwirtschaftskrise sprunghaft wuchs. Erst sehr spät wird klar, dass Steinmetz und Martin, die sich selbst immer als ideologiefrei gerierten, längst mit der NSDAP kooperierten. Nach 1933 setzen sie mit ihren Freunden aus der Wirtschaft die NS-Herrschaft in Pfungstadt durch.

Auch das Agieren von SPD und KPD in Pfungstadt findet das Interesse Arns‘. Dabei liegt seine Sympathie deutlich bei der SPD. Die KPD wird von Arns öfter des Dogmatismus und einer illusionären Politik geziehen. Das mag in manchen Fällen gut begründet sein, in anderen Fällen allerdings wirft seine Positionierung Fragen auf. So ist unverständlich, dass Arns Gewerkschaften und Erwerbslosenorganisationen kritisiert, wenn sie nicht auf Mäßigung setzen, sondern ihre Rechte einfordern. Letzteres war auch vor über 90 Jahren eine nachvollziehbare und begründete Position – und man sollte die KPD nicht dafür kritisieren, dass sie damals ihre Reformschläge daran orientierte, statt an dem, was unter kapitalistischen Bedingungen real umsetzbar erscheint. Inhalt ihrer Politik waren Kampfforderungen, von denen sich die KPD erhoffte, damit die Organisierung der Massen voranzutreiben.

Aufschlussreich ist das Kapitel, in dem Arns beschreibt, dass trotz aller Spaltungen innerhalb der Arbeiter:innenbewegung Mitglieder von SPD und KPD an der Basis spontan zusammenarbeiteten, wenn die Nazis aufmarschieren wollten. Wie in anderen Städten funktionierte auch in Pfungstadt eine antifaschistische Einheitsfront von unten. Noch am 5. März 1933, nachdem die NSDAP mit ihren deutschnationalen Bündnispartnern bei den von Naziterror bestimmten Wahlen eine Mehrheit im Reichstag gewonnen hatte, waren SPD, KPD und unorganisierte Antifaschist:innen in Pfungstadt zum Kampf gegen die Rechtsregierung entschlossen. Das beabsichtige Hissen der Hakenkreuzfahne am Rathaus von Pfungstadt konnte an diesem Tag verhindert werden. Erst am 7. März gelang es Nazis mit Hilfe von auswärtigen SA-Kräften, doch noch ihr Banner an der Rathausspitze zu befestigen. Dazwischen liegt die Niederlage der antifaschistischen Kräfte in der Stadt. Arns sieht die Verantwortung bei der SPD-Führung. Am Abend des 6. März warteten Mitglieder der SPD und KPD auf die Rückkehr eines Emissärs, der mit dem hessischen SPD-Politiker Wilhelm Leuschner über einen Aufruf zum Widerstand gegen die Nazis an der Macht verhandeln sollte. „Unter Tränen kehrte der Bote mit der traurigen Nachricht zurück, dass die obersten Stellen den Nazis keinen Widerstand leisten würden. […] Der Nazismus würde über eine träge Führung, über einen ausbleibenden Widerstand triumphieren“ (S. 206).

Die Veröffentlichung des Buches ist auch eine späte Würdigung des Historikers David E. Arns, der bereits 1994 im Alter von 47 Jahren an einem Herzinfarkt verstorben ist. Sein Bruder Robert Arns schrieb zur deutschen Übersetzung ein Vorwort.

Ohne das Engagement von Renate Dreesen, die sich in Pfungstadt seit Jahren um die Erforschung der jüdischen Geschichte verdient gemacht hat, wäre das Buch nicht möglich gewesen. Sie schreibt im Klappentext: „Wie unter einem Brennglas zeigt David E. Arns den Weg der südhessischen Kleinstadt Pfungstadt in die Diktatur. Er konnte noch viele Zeitzeugen befragen, auch aus bürgerlichen Kreisen, die den Nazis den Weg ebneten.“ Renate Dreesen engagiert sich seit Jahren in der Initiative „Bunt ohne Braun – Bündnis gegen Rechts“ in Pfungstadt. Sie schreibt: „Für uns ist diese Arbeit, die vor über 50 Jahren erstellt wurde, von unschätzbaren Wert und von erschütternder Aktualität. Leider wiederholt sich heute vieles, was vor wenigen Jahren noch undenkbar erschien.“ (S. 16). So spannt Dreesen einen Bogen zur Jetztzeit. Ohne die historischen Vergleiche überstrapazieren zu wollen, wird aus den Büchern von Arns und Allen deutlich, dass das Bürgertum ein Motor der Faschisierung der Gesellschaft war. Es ist das große Verdienst von Arns, diese Entwicklung für Pfungstadt so detailliert beschrieben zu haben. Ebenso deutlich wird in dieser Arbeit, dass die organisierten Arbeiter:innen trotz ihrer parteipolitischen Spaltungen der NS-Bewegung lange ablehnend gegenüberstanden. „Die Verantwortung für den Triumph der Nazis in Pfungstadt trägt das Bürgertum, nicht die Arbeiterschaft“, formuliert Arns am Schluss des Buches das Resümee seiner Forschungsarbeit (S. 259). Entgegen vieler damaliger und aktueller Debatten über die Machtbasis rechter Parteien in der Arbeiterschaft liegt hier eine regionalgeschichtliche und sozialhistorische Studie vor, die dieses Bild konterkariert. Was der Historiker hier für die südhessische Kleinstadt konstatiert, kann verallgemeinert werden. Der Faschismus kann nur mit Unterstützung des Bürgertums an die Macht kommen, wenn die organisierten Arbeiter:innen demobilisiert sind oder zerschlagen wurden.

* Peter Nowak

Arns David E.: Der Weg in die NS-Diktatur. Die Geschichte von Pfungstadt 1928 bis 1933. Die Buchmacherei, Berlin 2024, 267 Seiten, ISBN: 978-3-9825440-5-2, 16 Euro.

William, Sheridan Allen: Das haben wir nicht gewollt! – Die nationalsozialistische Machtergreifung in einer Kleinstadt 1930 – 1935. Die Buchmacherei, 332 Seiten, ISBN 978-3-9823317-5-1, 16 Euro.

Erstveröffentlichungsort:
https://www.labournet.de/express/