Viele Fragen zur Pandemie, ihrer Politik und den Folgen offen. Das liegt auch an alten Frontstellungen. Und einer nachhaltigen Gefahr aus der Pandemiezeit..

Corona-Aufarbeitung: Es geht nicht nur um das Virus, sondern um das System

Auf einem Kongress Corona-Aufarbeitung 2025 sollten die realen Leiden weder verharmlost noch gegeneinander ausgespielt werden: Sowohl Long Covid als auch Impfschäden sind sehr reale Leiden. Der Arbeitsmediziner und Mitbegründer der Arbeitergesundheitsbewegung Wolfgang Hien hat im Rahmen eines Forschungsprojektes an der Universität Bremen sechs Fallgeschichten von Long-Covid-Betroffenen untersucht.

Über die Aufarbeitung der Corona-Zeit wird in letzter Zeit wieder viel diskutiert, auch bei Telepolis …

…  gab es mehrere Beiträge dazu. Timo Rieg hat dort auch die Frage nach den Grenzen einer solchen Aufklärung gestellt.

Bürgerräte werden keine Probleme lösen

Das ist verständlich, wenn von Bürgerräten die Rede ist. Doch solche Gremien werden vor allem dazu dienen, Bürgerbeteiligung zu simulieren, ohne wirkliche Macht zu haben. Das hat sich in Frankreich in der Frage des Klimaschutzes gezeigt; die Politik hat die Empfehlungen der Bürgerräte einfach ignoriert.

Dies ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Und es muss aufhorchen lassen, wenn Politiker wie der Tübinger CDU-Landrat Joachim Walter in einem Interview mit dem Magazin Cicero eine bessere Fehlerkultur anmahnen.

Fehlerkultur, das ist ein Begriff aus der Managementausbildung. Eine gute Fehlerkultur soll dafür sorgen, dass das System umso reibungsloser funktioniert. Darum geht es, wenn Politiker verschiedener Parteien davon sprechen, dass die Zeit der Corona-Pandemie aufgearbeitet werden müsse.

Worüber sollen wir reden reden?

Was ist eigentlich mit der Corona-Zeit gemeint? Soll man beklagen, dass manche Maßnahmen vielleicht zu rigid waren, dass man die Schulen schneller hätte öffnen können? Eigentlich kann man das nur vernünftig beurteilen, wenn man auch weiß, wie gefährlich das Virus wirklich ist.

Ohne wissenschaftliche Expertise geht es hier nicht. Denn hier geht es eben nicht nur um Meinungen und Gefühle, sondern um wissenschaftliches Grundwissen.

Damit soll nicht denjenigen das Wort geredet werden, die wie jüngst der Publizist Jonas Reese in der taz gleich einen Großteil der Bevölkerung aus der Diskussion ausschließen wollen.

„Nein, nicht jeder hat einen Anspruch auf eine Debatte. Egal, wie laut er oder sie das auch fordert“, so der Podcaster. Das ist genau der arrogante Ton des medizinisch-industriellen Komplexes, der die Menschen möglichst auf den Status des unmündigen Patienten halten wollen, damit die Pharmaindustrie bei ihrer Profitmaximierung nicht gestört wird. Hier macht Reese genau das, was er seinen Gegnern vorwirft.

Coronaleugner:innen haben nichts in Talkshows verloren. Sie haben nichts zum Diskurs beizutragen. Wer sie einlädt, stellt sie auf eine Bühne, auf die sie nicht gehören…. Sie diskutieren nicht ergebnisoffen, sondern wollen überzeugen. Sie ignorieren Fakten und sie stellen Fragen, die längst beantwortet sind.Jonas Reese, taz

Fragend gehen wir voran

Reese outet sich hier als Prediger, der keine Fragen zulassen will. Fragen sind aber nicht schon dann beantwortet, wenn staatliche Instanzen und die in sie eingebundenen Medienvertreter sie für beantwortet erklären, sondern wenn ein Großteil der Bevölkerung tatsächlich keine Fragen mehr hat.

Wir sollten daher lieber dem zapatistischen Prinzip „Fragend gehen wir voran“ folgen. Nur so kann verhindert werden, dass die Menschen in irrationale Erklärungsmuster abdriften, wie es bei der Corona-Pandemie schnell der Fall war.

Dazu hat eine Linke beigetragen, die im autoritären Gestus, wie ihn Reese hier noch einmal vorführt, die Regierungspolitik teilweise noch übertreffen wollte und Menschen, die Fragen hatten, „Wir impfen euch alle“ entgegenschrie.

Stattdessen wäre es an der Zeit, im März 2025, wenn sich der Lockdown zum fünften Mal jährt, unter dem Motto „Fragend gehen wir voran“ die verschiedenen Aspekte der Corona-Thematik zu untersuchen.

Vom autoritären zum bewaffneten Liberalismus

Da ist zum einen der Aspekt der autoritären Staatspolitik, die in den Monaten des Lockdowns von den repressiven Staatsapparaten vorexerziert wurde.

Da wurden Menschen bestraft, weil sie allein auf einer Parkbank saßen, was zeitweilig verboten war. Da wurden Menschen verfolgt, weil sie mit mehr als der erlaubten Anzahl von Personen angetroffen wurden.

Man muss gar nicht erwähnen, wie viele Daten in dieser Zeit gesammelt wurden. Tatsächlich wurde die Bevölkerung in diesen Pandemiejahren in die digitale Welt getrieben.

Zuvor klagten viele Kapitalfraktionen, der Kapitalismus 2.0 gehe ihnen zu langsam, und in den Pandemiejahren formierte sich jener autoritäre Liberalismus, der seither vor allem im Deutschlandfunk und vielen anderen Medien seine Lautsprecher hat.

Andersdenkende sind nicht mehr Menschen mit einer anderen Position, die es zu ignorieren oder zu überzeugen gilt. Sie werden oft als Feinde behandelt, und dafür gibt es die sich wandelnden Begriffe.

Was 2020 die Corona-Leugner waren, sind heute die Putin-Freunde, was vor vier Jahren die Schwurbler waren, sind heute die Regelbrecher, die Verbreiter von Fakenews und Desinformation.

Sie alle haben, wie es Jonas Reese für die Corona-Debatte formuliert hat, den Anspruch verwirkt, mitreden zu dürfen. Der Kreis derer, die das Recht haben, in Fragen von Krieg und Frieden gehört zu werden, wird immer kleiner.

Damit bewegt sich auch der bewaffnete Liberalismus auf alten historischen Pfaden. Über Krieg und Frieden hat historisch immer nur ein ausgewählter Kreis entschieden und profitiert. Die Mehrheit der Bevölkerung musste dafür zahlen.

Damit dies möglichst widerspruchslos geschieht, braucht auch der bewaffnete Liberalismus seine Feindbilder und seine Ausgrenzungen. Darüber wäre auf einem Kongress zur Corona-Aufarbeitung 2025 zu reden.

Long Covid – Short Story

Dazu sollte auch die Kabarettistin Christine Prayon eingeladen werden. Die ehemalige „Birte Schneider“ der Heute Show hat sich 2022 aus dem Kabarett verabschiedet und kritisierte die Verengung des Sagbaren auch in der Kultur.

Dies ist auch das Thema des Buches, das Prayon kürzlich im Westend-Verlag unter dem Titel „Abwesenheitsnotiz. Long Covid – Short Stories“ veröffentlicht hat.

Das Buch beschreibt, wie ein Buchprojekt über die Folgen der Pandemie scheitert. Wir lesen vor allem die E-Mail-Korrespondenz zwischen einer Autorin und der Lektorin eines Verlages, mit der sie schon lange zusammenarbeitet und die ihre Arbeit bisher sehr geschätzt hat.

Zunächst ist die Lektorin von dem Buchprojekt begeistert. Doch die Freude verfliegt schnell, nachdem sie die ersten Seiten des Exposés gelesen hat.

Immer öfter kommentiert sie ganze Passagen mit „Vorsicht SA“, nachdem sie zuvor erklärt hat, dass diese ungewöhnliche Abkürzung für „Schwurbelalarm“ steht.

Die beiden Frauen werden sich immer fremder und schließlich scheitert das Buchprojekt. Prayon hat mit ihrem Buch einen durchaus humorvollen Beitrag zur Kritik am autoritären Liberalismus geleistet.

Post-Covid oder Post-Vac?

Dabei geht es auch um die Frage, an welchen Pandemiefolgen die Hauptfigur des Buches eigentlich leidet: Sind ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen Folgen von Long Covid oder Impfschäden?

An einer Stelle des Buches mailt die Autorin ihrer Lektorin, die ihr damals noch wohlgesonnen war.

Das Problem bei Long Covid oder Post Vac ist, dass diese ganzen vielfältigen Störungen (Immunsystemstörungen, Mikrozirkulationsstörungen … etc. pp.) nicht mit den gängigen diagnostischen Methoden erfasst werden.

Hier sind wir bei einem weiteren Aspekt, der bei einer Corona-Aufbereitung 2025 eine wichtige Rolle spielen sollte. Es geht eben nicht nur um die nach wie vor berechtigte Kritik an einer autoritären Staatspolitik in Pandemiezeiten, die wesentlich zur Herausbildung eines autoritären Liberalismus beigetragen hat.

Es geht auch um die Materialität der Krankheit und das reale Leiden vieler Menschen unter Corona. Es ist in der Tat problematisch, wenn Menschen in ihrer berechtigten Kritik an den repressiven Staatsorganen dieses Leiden verharmlosen oder gar teilweise leugnen. Eine solche Haltung rückt dann in die Nähe von Positionen, die Corona leugnen oder zumindest verharmlosen.

Bei einer Aufarbeitung von Corona im Jahr 2025 käme es aber gerade darauf an, berechtigte Kritik an staatlichen Maßnahmen von irrationalen Positionen abzugrenzen, was in den Protesten der Jahre 2020-2023 in vielen Fällen eben nicht gelungen ist.

Aber auch Kritiker der staatlichen Pandemiepolitik, die sich klar von irrationalen Strömungen abgrenzten, wurden oft trotzdem in die gleiche Ecke gestellt.

Auf einem Kongress Corona-Aufarbeitung 2025 sollten die realen Leiden weder verharmlost noch gegeneinander ausgespielt werden: Sowohl Long Covid als auch Impfschäden sind sehr reale Leiden.

Der Arbeitsmediziner und Mitbegründer der Arbeitergesundheitsbewegung Wolfgang Hien hat im Rahmen eines Forschungsprojektes an der Universität Bremen sechs Fallgeschichten von Long-Covid-Betroffenen untersucht.

Gegen Leugnung von Long-Covid und Impfschäden

Hien leitet den Text mit den Ergebnissen mit diesem Hinweis ein:

Die Corona-Krise ist noch lange nicht zu Ende. Die gesundheitspolitischen Herausforderungen, welche die Corona-Pandemie verursacht hat, sind enorm. Hierzu zählen vor allem die langfristigen und für Hunderttausende leidvollen Folgeerscheinungen, die unter dem Sammelbegriff Long- und Post-Covid zusammengefasst werden. Nach wie vor sind im gesellschaftlichen Raum, auch im medizinisch-therapeutischen Milieu, Tendenzen von Leugnung, Verharmlosung und Diskriminierung derartiger Folgen einer SARS-CoV-2- Infektion feststellbar.Wolfgang Hien

Es ist die Aufgabe aller, die sich in emanzipatorischer Weise kritisch mit der staatlichen Gesundheitspolitik auseinandersetzen, genau diese von Hien kritisierte Verharmlosung des Leidens nicht zuzulassen.

Er wendet sich auch dagegen, diese Leiden als rein psychosomatisch abzutun. Damit stimmt er auch mit dem Publizisten Paul Schubert überein, der in einem Essay schreibt:

Die Überbetonung der Möglichkeit einer psychischen Genese von Long Covid kommt dabei den Bedürfnissen einer Gesellschaft entgegen, welche ihre Funktionalität nicht durch Angst vor dieser Erkrankung beeinträchtigen lassen darf. Hinweise auf Viruspersistenz im Körper, Störungen des Immunsystems oder neuronale Entzündungen stellen das herrschende laissez faire eher in Frage.Paul Schubert, Jungle World

Wissenschaftliche Debatten über Long-Covid- und Impfschäden

Es ist aber wichtig, das Leid der Post-Vac-Betroffenen, die Impfschäden erlitten haben, gleichermaßen anzuerkennen und nicht zu verharmlosen. Im Gespräch mit Telepolis verweist Hien auf wissenschaftliche Debatten, die Parallelen zwischen Long Covid und Post Vac zu erklären versuchen.

In der molekularbiologischen Forschung zeigt sich, dass offenbar – und das ist in der Virologie ganz ungewöhnlich – das Spike-Protein selbst schädliche Effekte ausübt, z.B. auf Blutgefäße. Und der MRNA-Impfstoff operiert genau mit diesem Spike-Protein. Insofern wundert es nicht, dass auch hier Langzeitschäden, vollkommen analog zu Long-Covid, entstehen können.

Hien betont allerdings, dass diese nachgewiesen Schäden keineswegs in einer generellen Ablehnung von Impfungen führen sollte.

Peter Nowak