Gerald Grüneklee: Nur Lumpen werden überleben. Die Ukraine, der Krieg und die antimilitaristische Perspektive. Mandelbaum, 166 S., br., 15 €.

Plädoyer für »Lumpenpazifismus«

Grüneklee geht in einem Kapitel aber auch auf die Rechtsentwicklung in Russland ein, die die Behauptung von Präsident Putin ad absurdum führt, es gehe im Feldzug gegen die Ukraine um deren »Entnazifizierung«. Dennoch wird auch Grüneklee vorgeworfen, das autoritäre Putin-Regime zu verteidigen. Darauf geht er wiederum in einem speziellen Kapitel ein: »Es gibt eine vorherrschende Meinung, damit eine Deutungshoheit. Wer sich dieser Deutungshoheit nicht beugen will, sieht sich allen möglichen und unmöglichen Vorwürfen ausgesetzt, die das Ziel haben, einen auf jeden Fall zu diskreditieren und auszugrenzen.«

Eine leichte Zunahme der Teilnehmer*innen der diesjährigen Ostermärsche zeigt, dass es doch noch Widerstand gegen die parteiübergreifende Mehrheit derer gibt, die ständig betont, dass Deutschland wieder »kriegstüchtig« werden muss. Politiker*innen von Union, Grünen, FDP und SPD überbieten sich in den letzten Monaten mit Ankündigungen und Vorschlägen für …

… mehr Investitionen in »unsere Sicherheit« oder fordern wie Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, Russland müsse »ruiniert« werden.

Längst haben sich in Deutschland Militarismus und Revanchismus wieder breitgemacht. Der anarchistische Autor Gerald Grüneklee betont in einer kürzlich veröffentlichten Streitschrift indes, der russische Angriff auf die Ukraine habe diese Entwicklung zwar beschleunigt, aber nicht ausgelöst. Der Titel seines Buches »Nur Lumpen werden überleben« bezieht sich auf Äußerungen wie jene des Spiegel-Kolumnisten Sascha Lobo über »Lumpenpazifisten«.

Lobo und andere in der Öffentlichkeit omnipräsente Meinungsmacher*innen diffamieren Menschen und Gruppen, die nicht auf den Militarisierungskurs einschwenken wollen, samt und sonders als eine Art fünfte Kolonne des russischen Präsidenten Wladimir Putin. In diese Ecke wurden vor gut einem Jahr alle Unterzeichner*innen des von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer initiierten »Manifests für Frieden« gestellt, unter ihnen zahlreiche Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und andere Prominente. Und zuletzt gab es eine Welle der Entrüstung über SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, der kürzlich im Bundestag ein Nachdenken über ein »Einfrieren« des russisch-ukrainischen Konflikts angemahnt hatte.

Grüneklee zeichnet die lange reaktionäre Tradition nach, mit der Missliebige in Deutschland als »Lumpen« ausgrenzt wurden. »Lumpen, das waren Menschen, die pauschal von der Obrigkeit verdächtigt werden, kriminell zu sein und sich gemeinschaftsschädlich zu verhalten.(…) Lumpen, das waren Menschen, die ein öffentliches Ärgernis darstellten, weil man ihnen ihre Armut ansah.«

Grüneklee sieht die Beschimpfung dennoch auch als eine Art Auszeichnung: »Die Begriffsherkunft des ›Lumpen‹ verweist aber auch auf Menschen, die ihren eigenen Kodex hatten, ihre Überlebensstrategien – und die über beachtliche Widerstandskräfte verfügten, die sie jahrhundertelang recht resilient gegenüber staatlichen Zugriffen und Zwangsdiensten machten.«

In kurzen Kapiteln wirft der Autor, der als Buchhändler und Antiquar in Bremen lebt, Schlaglichter auf den neuen deutschen Nationalismus, der mit Begriffen wie Wehrhaftigkeit und Kriegstüchtigkeit um sich wirft. Er benennt die Profiteure des Krieges wie den Rheinmetall-Konzern, dessen Aktien seit zwei Jahren im Dauerhoch stehen und die mit der Waffenproduktion bei übervollen Auftragsbüchern kaum hinterherkommen.

Sehr informativ ist das Kapitel über rechte Kreise, die in den 1980er Jahren von der Zerschlagung der Sowjetunion träumten, die sich am Ende jenes Jahrzehnts schließlich selbst auflöste. Grüneklee wirft zugleich ein Schlaglicht auf die Ukraine als Labor des Neoliberalismus und geht auf die rechte Traditionspflege in dem Land ein. Zugleich beleuchtet er libertär-anarchistische Traditionen in der Ukraine.

Grüneklee geht in einem Kapitel aber auch auf die Rechtsentwicklung in Russland ein, die die Behauptung von Präsident Putin ad absurdum führt, es gehe im Feldzug gegen die Ukraine um deren »Entnazifizierung«. Dennoch wird auch Grüneklee vorgeworfen, das autoritäre Putin-Regime zu verteidigen. Darauf geht er wiederum in einem speziellen Kapitel ein: »Es gibt eine vorherrschende Meinung, damit eine Deutungshoheit. Wer sich dieser Deutungshoheit nicht beugen will, sieht sich allen möglichen und unmöglichen Vorwürfen ausgesetzt, die das Ziel haben, einen auf jeden Fall zu diskreditieren und auszugrenzen.« Davon lässt er sich indes nicht beeindrucken. Denn er weiß: Die Diskreditierung von Menschen, die gegen jeden Krieg sind, ist ein Kennzeichen jedes Militarismus und Nationalismus. Das mussten auch die Teilnehmer*innen der Ostermärsche wieder erfahren. Ihnen stärkt Grüneklee mit seinen Argumenten den Rücken – und bietet zugleich Stoff für kritische Diskussionen. Peter Nowak