Lange Zeit war Covid-19 kein großes Thema mehr. Doch vor wenigen Tagen ließ ein Bericht im Deutschlandfunk aufhorchen. „Corona, Masken und Selbsttests sind mit Ende der Pandemie aus unserem Alltag verschwunden. Nun steigen die Fallzahlen wieder“, hieß es. „Die Coronavirus-Variante ‚Eris‘ breitet sich aus. Experten blicken bislang gelassen auf den Herbst und Winter.“ Tatsächlich berichten Menschen, die öfter mit Personen aus Großbritannien Kontakt haben, dass dort in manchen Bereichen wieder Masken getragen werden. Auch die Impfprogramme würden dort ausgeweitet. Auffallend ist, …
… dass in den Berichten in Deutschland eher auf Entwarnung gesetzt wird.
So wird im Deutschlandfunk der Epidemiologe Klaus Stöhr zitiert: „Ich bin deswegen entspannt, weil ich weiß, welche Instrumente wir haben, mit welchen Möglichkeiten wir das Geschehen untersuchen, welche Zahlen existieren zu den Vorjahren“, so Stöhr. „Da gibt es nichts Besorgniserregendes.“
Nicht alle sehen die Entwicklung so gelassen. „Neue deutsche Welle“ ist ein Artikel von Frederic Valin in der taz überschrieben. Der Autor hat in den letzten drei Jahren mit Blick auf besonders gefährdete Menschen davor gewarnt, die Corona-Maßnahmen zu früh zu lockern oder generell nicht ernst zu nehmen. Diese Befürchtung äußert Valin auch angesichts des Umgangs mit der neuen Virusvariante:
Akut von der sich aktuell aufbauenden Welle bedroht sind Kliniken. Das betrifft insbesondere Kinderambulanzen, die bereits jetzt am Rand ihrer Belastbarkeit stehen. Florian Hoffmann, Generalsekretär der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, sagte im Mai der Funke-Mediengruppe: „Die Lage der Kinderkliniken ist dramatisch und wird sich eher noch verschärfen.
Frederic Valin, taz
Trotz Corona zur Arbeit
Der Verdacht drängt sich auf, dass die Staatsapparate heute auch deshalb beim Virusgeschehen auf Entspannung setzen, weil die deutsche Wirtschaft geschont werden soll. Wie wenig dort gedacht wird, zeigt ein Artikel der wirtschaftsnahen KA-News deutlich, in dem die Frage erörtert wird, ob man mit Corona eigentlich zur Arbeit kommen darf. Da heißt es ganz unzweideutig:
Seit dem 1. März 2023 müssen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch dann zur Arbeit kommen, wenn sie positiv auf das Coronavirus getestet wurden. Allerdings dürfen sie keine typischen Symptome haben. Wer sich mit Covid-19 infiziert hat, aber keine Symptome verspürt, kann sich deswegen nicht mehr krank schreiben lassen. Sollte das aber doch der Fall sein, müssen Arbeitnehmer daheim bleiben.
Victoria Gerg, KA-News
Im weiteren Verlauf des Textes macht Gerg noch einmal deutlich, dass es in dem Konflikt auch um die Machtfrage am Arbeitsplatz geht.
Grundsätzlich kommt es bei der Anwesenheitspflicht trotz einer Corona-Infektion auf die Vorgaben des Arbeitgebers an. Laut Gesundheitsministerium können Arbeitgeber nun selbst festlegen, welche Maßnahmen zum Infektionsschutz am Arbeitsplatz eingehalten werden müssen.
Hier wird klar ausgesprochen, dass die Beschäftigten auch im Bereich der Gesundheit ganz unter dem Kommando des Kapitals stehen. Schon immer waren die Lohnabhängigen im Kapitalismus gezwungen, ihre Gesundheit bei der Lohnarbeit zu gefährden. Es waren Kämpfe beispielsweise der Arbeitergesundheitsbewegung, die dem Kapital hier Grenzen setzten.
In dem Buch „Die Arbeit des Körpers“ beschreibt Wolfang Hien sehr anschaulich, wie schwer der Kampf, die eigene Gesundheit nicht zu gefährden, war und wie wenig Solidarität es da oft auch unter den Kolleginnen und Kollegen gab.
In der Hochphase der Corona-Pandemie gab es vor allem in Frankreich und Italien Kämpfe von Arbeitern beispielsweise im Logistiktochter, die Produktion massiv einzuschränken, in dem sie beispielsweise bestimmte Luxuswaren nicht beförderten. In anderen Bereich gab es auch generelle Arbeitsniederlegungen. Hierin könnte man auch ein Moment der Produzent:innenmacht sehen, das Kommando des Kapitals über die Gesundheit der Arbeiter stand hier zumindest zeitweise in Frage.
Corona als gesellschaftliches Verhältnis Leider werden diese Widerstandsaktionen von Lohnabhängigen in Corona-Zeiten in dem kürzlich im Mangroven-Verlag erschienenen Buch „Corona als gesellschaftliches Verhältnis“ nicht erwähnt. Dort kommen lediglich die Kämpfe von Arbeitern gegen Einschränkungen ihres Lebens im Zuge der Corona-Maßnahmen vor, wie sie in Italienund Frankreich beispielsweise gegen die Einführung des grünen Passes stattgefunden haben.
Hier ist auch gleich ein Kritikpunkt an dem durchaus anregenden Buch von Karl Reitter, Linda Lilith Obermayr und Rene Bohnstingl benannt. Wie bei den drei philosophisch bewanderten Autorinnen und Autoren nicht anders zu erwarten, handelt es sich um ein Buch, das die Corona-Maßnahmen durch die Brille von Marx in die Ideologie des Spätkapitalismus einordnet.
Sehr sympathisch ist auch, dass sich die Autorinnen und Autoren nicht als Politikberater verstehen. Sie bestehen auf dem Primat der Kritik an der unvernünftig eingerichteten Welt, ohne deswegen gleich wie oft gefordert konstruktive Lösungsvorschläge machen zu müssen. Erst dadurch gelangen sie zu ihrer profunden Kritik an der technokratischen Herrschaft, der Wissenschaft als Herrschaftswissen.
Sehr interessant sind auch die Kapital über die Veränderungen in der Ideologie- Berater- und Medienindustrie. Texte zum Thema Individuum und Masse wechseln ab mit einen sehr komplexen Exkursion zum Wandel der Kommunikation im Internetzeitalter. Wenn die Autoren immer wieder versuchen, ihre Thesen mit den Pandemie-Maßnahmen zu verbinden, so bleiben die beiden Bereiche doch gelegentlich unverbunden nebeneinander stehen.
Das ist aber in Sache begründet und nicht den Autoren anzulasten. Sie stellen gleich am Anfang klar, dass sie weder die Pandemie noch ihre Gefährlichkeit in Frage stellen. Das wäre dann das Gebiet von Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftlern. Aber eine Beurteilung des Charakters der Pandemie wäre wichtig, um beurteilen zu können, ob zumindest die im Buch beschriebene Propaganda für die Durchsetzung der Maßnahmen berechtigt war oder nicht.
Denn, die Autoren werden ja als Marxisten nicht generell ablehnen, wenn beispielsweise Staaten die Bevölkerung auffordern, bestimmte Gesundheits- und Hygieneregeln einzuhandeln. Solche Kampagnen gab es im Russland nach der Oktoberrevolution ebenso wie in Nicaragua nach der sandinistischen Revolution 1979. Sie hatten damals durchaus Erfolge gebracht, bestimmte gefährliche Krankheiten gingen zurück, die Lebenserwartung der Menschen stieg.
Diskussionsangebot zwischen den Fronten
Erfreulich ist, dass die Autoren nicht nur den Irrationalismus der Staatsapparate in der Pandemie an verschiedenen Stellen gut herausarbeiten, sondern auch den Irrationalismus in der sehr heterogenen Protestbewegung gegen die Corona-Maßnahmen benennen. Im Gegensatz zu einem Großteil der Medien erkennen die Autoren an, dass die Gegner der Corona-Maßnahmen nicht vorschnell alle rechts eingeordnet werden.
Allerdings muss man feststellen, dass an manchen Stellen die Kritik an den Maßnahmen-Gegnern zu schwach ist. So wird ihnen in der Mehrheit nicht sehr überzeugend ein solidarischer Freiheitsbegriff attestiert. Dabei wäre es doch interessanter, zu analysieren, dass teilweise kleinbürgerliche Bewegungen einen solchen Solidaritätsbegriff gar nicht entwickeln können. Auch da wäre das Instrumentarium der Marx’schen Kritik durchaus hilfreich.
Unklar bleibt auch, warum eben die Aktionen von Lohnabhängigen, die für ein Herunterfahren der Produktion streikten, gar nicht erwähnt werden. Auch die durchaus kritikwürdige Kampagne Zero Covid wird teilweise verkürzt dargestellt, wenn der antikapitalistische Impetus dahinter einfach unterschlagen wird.
Merkwürdig ist an dieser Stelle auch, dass die Autoren vor den verheerende Folgen warnen, der ein von Zero Covid geforderte Unterbrechung von Teilen der Produktion auf die globalisierte Wirtschaft hat. Wollen sie denn nicht den revolutionären Bruch mit der kapitalistischen Wirtschaft? Und gehören da nicht Unterbrechungen viel größeren Ausmaßes dazu?
Mit heißer Nadel geschickt
Und schließlich ist auch manche Kritik an den Maßnahmen-Befürwortern im Buch mit heißer Nadel gestrickt. Dabei wird ausgerechnet die Antifa Friedrichshain für einen Text kritisiert, in dem sie gerade nicht in „Wir impfen Euch alle“-Attitüde sämtliche Kritiker der Corona-Maßnahmen zu Rechten erklärt hat. Vielmehr wurde in dem Text sehr differenziert aufgeführt, dass eben sehr verschiedene Milieus auf den Protesten vertreten sind.
Es wird auch darauf hingewiesen, dass einige der Teilnehmer Schilder mit dem Schriftzug „Nazis raus“ getragen haben, was in dem Text der Antifa Friedrichshain positiv vermerkt wird. Richtigerweise wird aber auch gefragt, welcher Faschismusbegriff da verwendet wird, wer also mit den Nazis gemeint sind, die da raus sollen. Sind es die tatsächlich bei den Maßnahmen-Kritikern mitgelaufenen Ultrarechten oder die Menschen, die die Maßnahmen befürworten?
Ziel müsste es doch sein, bei allen Unterschieden in der Einschätzung zu den Maßnahmen, diejenigen miteinander in die Diskussion zu bringen, die weiterhin Kritik an Irrationalität der Verhältnisse im Kapitalismus ebenso formulieren, wie am Irrationalismus vieler von dessen scheinbaren Kritikern. In diesen Sinne ist auch das Buch ein Diskussionsangebot, das vielleicht angesichts der Meldungen über eine neue Variante des Corona-Virus gerade zur richtigen Zeit kommt.
Denn schon werden auch die Kundgebungen der Maßnahmen-Kritiker, wie sie am kommenden Samstag in Berlin geplant sind, wieder genauer beobachtet. Es wäre schon ein Erfolg, wenn sich nicht die Frontstellungen der letzten drei Jahre einfach fortsetzen würden. Dazu haben Bohnstingl, Obermayr und Reitter mit ihren Buch einen Beitrag geleistet, der sich freilich auch selber der Kritik stellen muss.
Der Autor hat mit Anne Seeck und Gerhard Hanloser des Buch „Corona und die linke Kritik(un)fähigkeit“ im Verlag AG Spaak herausgegeben
(Peter Nowak)
https://www.telepolis.de/features/Neue-Corona-Varianten-alte-Frontstellungen-9296148.html