Gata Preta (Hrsg.): Ich vermisse euch wie Sau. Eine Auseinandersetzung mit Flucht, Exil und Illegalität. Immergrün-Verlag 2022, br., 224 S., 12 €.

Unsicherer Herkunftsstaat BRD

Die Herausgeber*innen sind Freund*innen und Genoss*innen von Ricardo, die Jahre nach seinem Tod mit der Herausgabe des Buches auch ihre Trauer über den bis heute nicht geklärten Tod ihres Freundes verarbeiten. Zugleich wollen sie eine Auseinandersetzung über die auch in der Linken in Deutschland tabuisierten Themen Flucht, Exil und Illegalität anstoßen.

Wenn es um Flucht und Asyl aus politischen Gründen geht, denkt kaum jemand, dass die Geflüchteten aus Deutschland kommen. Dabei gab – und gibt – es immer wieder linke Aktivist*innen, die sich einer drohenden langen Haftstrafe durch Flucht entzogen und sich für das Exil im Ausland entschieden. Einer von diesen Menschen war Ricardo. Er wurde 1986 in Dresden geboren und war jahrelang …

… in linken Zusammenhängen in Sachsen aktiv, unter anderem in der Graffiti-, der Hausbesetzer*innen- und in der Antifa-Szene. »Dies führte zu ständiger staatlicher Repression und mehreren Knastaufenthalten. Als Schwarzer Mensch war er zusätzlich ständigem Rassismus ausgesetzt«, schreibt das Autor*innenkollektiv gata preta, das jüngst im Immergrün-Verlag das Buch »Ich vermisse euch wie Sau« über Ricardo herausgegeben hat.

Die Kollektivmitglieder sind Freund*innen und Genoss*innen von Ricardo, die Jahre nach seinem Tod mit der Herausgabe des Buches auch ihre Trauer über den bis heute nicht geklärten Tod ihres Freundes verarbeiten. Zugleich wollen sie eine Auseinandersetzung über die auch in der Linken in Deutschland tabuisierten Themen Flucht, Exil und Illegalität anstoßen.

Aktivist auf der Flucht

Vor allem Letzteres ist den Autor*innen gut gelungen. Über das Leben und vor allem den Tod von Ricardo bleibt hingegen vieles ungeklärt – was die Herausgeber*innen auch offen einräumen. Dabei ist durchaus positiv zu bewerten, dass hier nicht der Eindruck von Klarheit suggeriert wird, die es nicht gibt. So bleibt letztlich offen, ob der Tod von Ricardo ein Suizid war, und welche Rolle seine Verwandten spielten, die ihn bei der Übersiedlung nach Mosambik im Jahr 2014 unterstützten.ÄHNLICHE ARTIKEL

Mit seiner Flucht aus Deutschland wollte Ricardo sich einer längeren Haftstrafe entziehen. Diese war aus der Zusammenzählung verschiedener Einzelstrafen entstanden, die ihm sein politischer Aktivismus eingebracht hatte. Vor seiner Verurteilung war Ricardo auch über Dresden hinaus als linker Aktivist bekannt gewesen, der Wert auf eine längerfristige Organisierung legt. Die Autor*innen erzählen, wie viel Kraft er in die Vernetzungsarbeit mit linken Projekten in kleineren Städten in Südbrandenburg gesteckt hat, darunter der Aufbau eines linken Infoladens und Spätshops im brandenburgischen Finsterwalde. Bei der rechten Szene in der Gegend war er doppelt verhasst: Als linker Aktivist, der in Gegenden antifaschistische Räume aufbauen wollte, wo die Rechten stark waren – und als Schwarzer Mensch.

Erfahrungen mit rassistischer Gewalt, die Ricardo auch 2005 bei einer mehrmonatigen Haftstrafe wegen verschiedener politischer Delikte in einem Jugendgefängnis im sächsischen Zeithain machen musste, trugen ebenfalls zu seiner Entscheidung für Haftentzug bei. »Gerade in Zeithain war er als Schwarzer politischer Mensch mit rassistischer Gewalt konfrontiert. In regelmäßigen Abständen kam es zu körperlichen Auseinandersetzungen«, heißt es im Buch. Doch Ricardos Hoffnung auf einen Neuanfang in Mosambik wurde vermutlich bitter enttäuscht. Drei Jahre später war er tot. 

Zwischen Hoffnung und Verzweiflung

Besonders beeindruckend sind die auf rund 35 Seiten dokumentierten Mails, die Ricardo in unregelmäßigen Abständen aus dem Exil an seine Genoss*innen schrieb. Aus ihnen lässt sich seine Stimmung ablesen, die zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwankt. So beschreibt Ricardo etwa die Probleme in seinem Exilland, als er sich als Bauzeichner selbständig machen will. Auch seine anarchistischen Überzeugungen wurden mit der Realität in einem Land konfrontiert, dessen Regierungspartei FRELIMO zwar eine Vergangenheit im Kampf gegen den Kolonialismus hat, aber längst als bürokratische und korrupte Machtpartei gilt. Trotzdem will Ricardo sich auch im Exilland politisch betätigen und erwägt einen Eintritt in die Partei.

Auch Ricardos Prinzipien der bedingungslosen Selbstorganisation wurden in Mosambik auf eine harte Probe gestellt, wenn er in seinen Mails beschreibt, wie Dorfmilizen auf dem Land tatsächliche oder vermeintliche Diebe eigenhändig liquidierten. Ricardo machte sich keine Freunde, als er dieser Selbstjustiz widersprach. Immer wieder zeigt er sich in seinen Mails verwundert, dass der Kampf um einen sicheren Arbeitsplatz für ihn einmal wichtig werden könnte. »Manchmal denke ich mir zwar, dass ich einfach ein bisschen rumcrimen könnte …, aber zocken ist hier echt keine gute Idee«, schreibt Ricardo einige Monate nach seiner Ankunft im Exil. Zwischendurch überlegt er auch, wieder nach Deutschland zurückzukehren und die Strafe abzusitzen. Doch dazu kam es nicht mehr.

»Am 4. Dezember 2017 erreichte uns die schlimme Nachricht, dass unser Freund Ricardo in seinem selbstgewählten Exil am Tag zuvor zu Tode gekommen ist«, schreiben gata preta. Im Buch ist kein einziges Foto des toten Freundes zu finden, wohl aus Rücksicht auf seine Verwandten, die ebenfalls nicht zu Wort kommen. Was aber deutlich gezeigt wird: Exil und Flucht sind nicht das große Abenteuer, wie es sich oft in den Köpfen vieler Linker darstellt.

Realität gegen Ideal

Die Interviews, in denen Linke über ihre Erfahrungen mit Flucht und Exil berichten und die den zweiten Teil des Buches ausmachen, fahren einer solchen Romantisierung ebenfalls in die Parade. Unter anderem kommt ein Mensch aus anarchistischen Zusammenhängen zu Wort, der vor vielen Jahren plötzlich und unerwartet einen Genossen aufnehmen musste. »Da ich der einzige von uns war, der gerade im Ausland gelebt hat, fiel die Entscheidung sehr schnell auf mich, ohne dass mich jemand nach meiner Meinung gefragt hat«, erinnert er sich und betont noch heute, was für eine riesige Herausforderung die Fluchthilfe war: »Ich habe zu der Zeit in sehr prekären Verhältnissen gelebt und konnte der Person nicht wirklich helfen«. Am Ende musste sich der politische Exilant aus gesundheitlichen Gründen der Polizei stellen und der Fluchthelfer zieht nach vielen Jahren ein ernüchterndes Fazit. Es habe »irgendwie funktioniert für einen sehr hohen Preis. Und diesen Preis hat die Person bezahlt, die auf der Flucht war. Die viele Jahre gebraucht hat, sich irgendwie davon zu erholen«. Da alle Angaben in dem Gespräch anonymisiert sind und auch die Hintergründe zu dem Fall fehlen, ist es schwer, das Ganze politisch einzuordnen. So bleiben auch hier für die Leser*innen wieder viele Fragen offen.

Die ehemalige RAF-Angehörige Margit Schiller beschreibt ihre Probleme in den Exilländern Kuba und Nicaragua. Sie entzog sich 1985 einer weiteren Haftstrafe und setzte sich nach Kuba ab, ohne jede Unterstützung. Noch im Flugzeug fragte sie fremde Menschen, wo sie auf der Insel Exil beantragen kann. Im Exilland angekommen, habe sie sich aus Selbstschutz von der Außenwelt abgeschottet, unter anderem mit einer alten kubanischen Kommunistin nichts zu tun haben wollen, weil diese für die DDR-Staatssicherheit gearbeitet hatte.

Als dann Freund*innen aus Deutschland zu Besuch kamen, freundeten diese sich mit der alten kubanischen Genossin an, was Schiller ihnen übel nahm. Auch mit einer Freundin, die ihr den Erstkontakt nach Uruguay vermittelt hatte, zerstritt sich Schiller. In ihrem Bericht wird ersichtlich, welche psychische Belastung solche Fluchterfahrungen bedeuten.

Ein anderes Interview führten die Herausgeberinnen mit Bernd (mittlerweile verstorben) und Thomas, zwei Mitgliedern der autonomen Gruppe K.O.M.I.T.E.E., die 1995 bei der Vorbereitung eines Anschlags auf ein im Bau befindliches Abschiebegefängnis von der Pogastalizei entdeckt wurden. Beide fanden Exil in Venezuela und betonten bereits in vorherigen Interviews unter anderem in dem Film »Gegen den Strom – abgetaucht in Venezuela« (2022), dass sie bei dem Weg ins Exil viel Solidarität erfuhren. Hier wird deutlich, wie unterschiedlich die Umstände politisch motivierter Flucht sind. Letztlich kommt es sicher auch auf das solidarische Umfeld an, das bei vielen der im Buch zu Wort kommenden Genoss*innen offensichtlich fehlte. 

Insgesamt ist »Ich vermisse euch wie Sau« ein ebenso bedrückendes wie wichtiges Buch – trotz und gerade wegen der vielen Fragen, die die Lektüre aufwirft. Peter Nowak