Der Streit um Identitätspolitik wird in liberalen und linken Kreisen mit großer Erbitterung geführt. Dabei wird der gegnerischen Seite im jeweiligen Konflikt oft schnell Menschenfeindlichkeit, Rassismus oder Antisemitismus vorgeworfen. Umso erfreulicher, wenn über linke Identitätspolitik auch mal sachlich-argumentativ gestritten wird. Ein seltenes Beispiel hierfür ist das vom nd-Autor Gerhard Hanloser herausgegebene Buch. Darin widmen sich zehn Autor*innen unterschiedlichen Aspekten der …
… Identitätsdebatte unter Linken. Die Aktivistin Anne Seeck wählt einen subjektiven Zugang: »Ich schreibe aus einer marginalisierten Perspektive, in der eine Ost-Westmigration und Einkommensarmut eine Rolle spielen. In einer Krise fragte ich mich: Wer bin ich?« Seeck beschreibt, wie sie als linke DDR-Oppositionelle an ihrer Identität zu zweifeln begann, weil sie von ihren Mitstreiter*innen kritisiert wurde, nachdem sie Ende der 1980er Jahre einen Ausreiseantrag gestellt hatte. Aber auch in der Westlinken fand sie keine politische Heimat. Seeck scheint: »Ich habe die Normalität überschritten – die existierenden Normen und Werte in zwei Gesellschaftssystemen.« Heute wiederum würde ihr die neoliberale Politik Schranken für eine gelungene Identitätsfindung setzen. »Die Identität ist ein lebenslanger Prozess und ein Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse«, betont Seeck und weist damit auf ein viel zu wenig beachtetes Problem hin. Mehrere Autor*innen beschäftigten sich mit der Identitätsdebatte in unterschiedlichen Ländern. Moshe Zuckermann befasst sich mit der Identitätsbildung arabischer Jüdinnen und Juden in Israel, die sich über Jahrzehnte von den aus Europa Eingewanderten, den sogenannten Aschkenasim, benachteiligt fühlen. Zuckermann sieht darin auch eine Erklärung für den Rechtsschwenk in der israelischen Innenpolitik, die bei den letzten Wahlen besonders deutlich sichtbar wurde. Bernard Schmid analysiert die Debatte über den Islamo-Gauchismus, einer angeblichen Kooperation von Linken und Islamisten, die über Jahre von der Rechten und ihren Medien in Frankreich lanciert wurde. Der Autor bestreitet, dass es diese gibt, benennt aber auch Fehler mancher linker Strömungen, die sich nicht deutlich genug vom Islamismus abgrenzen würden. Interessant ist auch der Einblick, den Schmid in die Debatten einer kurzlebigen Indigenenpartei in Frankreich gibt, die die Ethnizität zum Hauptwiderspruch machte und Klassenpolitik als linke Agenda ablehnte. Janette Otterstein geht auf einen der Ursprungstexte der linken Identitätspolitik ein, das Combahee-River-Collective-Statement. Das 1977 in den USA von Schwarzen Feministinnen mit akademischem Hintergrund verfasste Dokument habe weder Bündnisse mit anderen linken Gruppen noch einen positiven Bezug zum Klassenkampf ausgeschlossen. Die Autorinnen wollten eine sozialistische Gesellschaft aufbauen. Heutigen Auseinandersetzungen hingegen fehle dieser systemtransformierende Charakter, beklagt Otterstein. Dagegen werde die sogenannte liberale Demokratie verteidigt, die nur eine Spielart des Kapitalismus sei. Der Streifzug durch die identitätspolitische Debatte der letzten Jahrzehnte durch den Historiker Christoph Jünke ist schwere theoretische Kost, aber nicht uninteressant. Nicht eine »bundesdeutsche Nationalfahne mit buntem Schmetterling« könne das Ziel sein, kritisiert er die dominante liberale Spielart der Identitätspolitik. Als Alternative benennt Jünke einen emanzipatorischen Sozialismus, der ohne einen radikalen Demokratismus nicht auskommt. »Und doch gibt erst der sozialistische, also ein antikapitalistisch-gemeinwirtschaftlicher, solidarischer Gesellschaftsbruch diesen radikalen Demokratismus seine historische Realisierungschance«, betont Jünke. Kurzum, ein erkenntnisbringender Band. Peter Nowak