Studer Brigitte, Reisende der Welt­revolution. Eine Globalgeschichte der Kommunistischen Internationale, Suhr­kamp Taschenbuch, 2021, 30 Euro, ISBN 978­3­518­29929­6

Reisende der Weltrevolution

Spätestens seit 1989 sind wir mit einer Flut von Schriften konfrontiert, die die Oktoberrevolution und alles, was damit zusammenhängt, als von Beginn an falsch und verbrecherisch abqualifizieren. Da wird den Protagonist*innen jenes globalen sozialistischen Aufbruchs höchstens noch als mildernde Umstände zugute gehalten, dass sie Idealist*innen waren, die aber die Realität nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Besonders in der Kritik steht die Kommunistische Internationale (Komintern), die in der Regel immer mit dem Zusatz „von Moskau“ oder gleich „von Stalin gesteuert“ versehen wird. Das reicht für die meisten der heutigen Autor*innen, um sich damit nicht weiter befassen zu müssen. Die Beweggründe der vielen Menschen, die in der Komintern und ihrem Umfeld aktiv gewesen sind, werden dann meistens ignoriert.

Da ist die Schweizer Historikerin Bri­gitte Studer eine lobenswerte Ausnah­me. In ihrer im Suhrkamp­-Verlag veröf­fentlichten über 600­seitigen Geschichte der Komintern nimmt sie die Protagon­ist*innen ernst. „Weshalb engagieren sich Menschen als internationale Berufs­ revolutionäre, selbst auf die Gefahr hin, ihr Leben dabei zu verlieren? Weshalb wählten sie ein unsicheres, nomadisches Leben? Weshalb stürzten sie ihr ganzes Selbst in ein Leben für die Komintern?“ Diese Fragen …

… im Klappentext bewegen Studer, die die die Aktivist*innen poe­tisch als „Reisende der Weltrevolution“ bezeichnet.

Dabei zeigt Studer auf, dass viele De­batten, die aktuell in der globalen linken Bewegung diskutiert werden, bereits in der Komintern nicht nur Thema waren, sondern zumindest in Ansätzen umge­setzt wurden. So beschreibt sie die internationalistischen Aktivitäten des beson­ders umtriebigen Komintern-Funktionärs Willi Münzenberg als „Aufbau eines glo­balen antikolonialen Solidaritätsraums“ (S. 262). „Der von ihm in Bewegung gesetzte Prozess kann als Evolution von einer proletarischen internationalisti­schen Philanthropie zu einer transnatio­nalen antiimperialistischen Politik cha­rakterisiert werden“ (S. 263). Mit der Gründung der Antiimperialistischen Liga zum Kampf gegen Imperialismus und für nationale Befreiung habe Münzenberg die Kolonialpolitik in die Herzen der Metro­polen geholt, so Studer.

Internationale Rote Hilfe spielt wichtige Rolle

Natürlich waren die transnationalen kom­munistischen Revolutionär*innen von Beginn an einer massiven Repression der Staatsapparate der bürgerlichen Welt ausgesetzt. Schon die Anreise zu den Tagungen der Komintern waren lebensgefährlich wie Hilde Kramer, die dort in den Anfangsjahren im Sekretariat arbei­tete, im Zusammenhang mit dem zweiten Weltkongress der Komintern 1920 be­schreibt: „Die Rückfahrt der Kongress­ delegierten war nicht immer einfach. In der Tat kamen nicht alle heil zurück. Drei junge Franzosen und ihr Überset­zer ertranken, als sie zur Umgehung der Blockade der Alliierten die Über­fahrt mit einem kleinen Fischerboot von Murmansk aus wagen. Zwei griechische Delegierte wurden vermutlich von den Besitzern des kleinen Boots, mit dem sie zur Rückfahrt übersetzten ermordet, zwei türkische von der Polizei, die sie im Marmarameer ertränkte“ (S. 96), zitiert Studer aus den Erinnerungen von Hilde Kramer. Daher war die Solidarität gegen diese vielfältigen Angriffe eine wichti­ge Aufgabe der Komintern. Deshalb wird auch die Internationale Rote Hilfe (IRH), die beim 4. Weltkongress der Komintern im November 2022 – also vor 100 Jah­ ren – gegründet wurde, in Studers Arbeit immer wieder erwähnt. So gab es 1931 eine wesentlich von der IRH organisierte Kampagne für die in China verhafteten Schweizer Komintern­-Mitarbeiter*innen Paul und Gertrud Ruegg, denen die Todesstrafe drohte. „Wie immer hatte Mün­zenberg auch seine Kontakte für ein in­ternationales Verteidigungskomitee (mit Henri Barbusse als Präsident) und für zahlreiche Petitionen mobilisiert: von Al­bert Einstein über den Maler Paul Klee, den Schriftsteller Maxim Gorki, den Gra­phiker John Heartfield, den rasenden Reporter Egon Erwin Kisch, die Journalistin und Autorin Agnes Smedley, den alten und den neuen Bauhausdirektor Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe und den nicaraguanischen Guerillaführer Augosto Sandino bis zu Frau Sun Yat­sen (Song Qingling)“ (S. 367), beschreibt Studer die klassische Taktik der IRH mit prominenten Namen aus aller Welt Druck aufzubauen, um von Repression bedroh­te Genoss*innen zu schützen. Bei dem Ehepaar Ruegg gelang es. Doch die we­sentlich auch von der IRH mitgetragene Kampagne für die Rettung der in den USA wegen einer falschen Mordanklage mit der Todesstrafe belegten Syndikalisten Sacco und Vanzetti scheiterte trotz der weltweiten Proteste, die weit über das lin­ke Spektrum hinausgingen. Beide wurden hingerichtet.

Zäsur nach 1933

Der Machtantritt der Nazis in Deutsch­land war auch für die IRH eine Zäsur. Schließlich war Berlin für sie wie für alle der Komintern angeschlossenen Nebenor­ ganisationen bis 1933 eine zentrale Orga­nisationsbasis. „Wie ein Kartenhaus fiel die mächtigste kommunistische Partei außerhalb der Sowjetunion mit all ihren Massenorganisationen in sich zusammen. Die Bestürzung unter den Parteiangehöri­gen war groß“ (S. 389), beschreibt Studer die Stimmung nach der Niederlage in Deutschland und stützt sich dabei auf viele zeitgenössische Quellen. Die Um­stellung auf konspirative Arbeit fiel vielen nicht leicht. „Auf der Straße begegne ich manchmal Mitarbeitern der Roten Hilfe. Wir gingen schweigend aneinander vor­bei, wechselten nur Blicke, machten eine Handbewegung und trafen uns in einer Seitengasse“ (S. 391) zitiert Studer die Schweizer Komintern­-Mitarbeiterin Men­tona Moser über die Situation in Berlin im März 1933. Die IRH, die durch die massive Zunahme der Repression durch den Faschismus an der Macht notwendi­ger denn je war, musste nun selber neue Orte suchen, in denen ihre Weiterarbeit möglich war. So konnte sich die IRH auch erst im Herbst 1933 in die Kampagne zur Rettung der Kommunisten im Reichstagsbrandprozess einschalten und rich­tete dafür in Paris ein Kampagnenbüro mit zusätzlichem Personal ein. Auch hier spielte Münzenberg wieder die zentrale Rolle, der hier auch die Bündniskonzepti­on der Wende zur Volksfront vorwegnahm, die die Komintern ab 1934 einleitete. „Aus dem Kampf gegen den Faschismus wollte er einen Kampf für die Freiheit und die Allianz zwischen Arbeiterbewe­gung und anderen demokratischen sowie progressiven Kräften machen“ (S. 407), beschreibt Studer die politische Agenda von Münzenberg, die in der Arbeit der IRH schon vorher angewendet wurde, wie die von zahlreichen bürgerlichen Intellektuellen aus aller Welt unterstützten IRH­- Kampagnen zeigt.

Spanien im Herzen

Im Kapitel über die spanische Revoluti­ on gibt es ein eigenes Unterkapitel, das sich detailliert mit der Arbeit der IRH in diesem weltweit beobachteten Kampf zwischen den Kräften des Faschismus und ihren Gegner*innen befasst. Die IRH war laut Studer die erste kommunistische Organisation, die sich in Spanien nie­ derließ. Denn ihre Arbeit begann bereits als die spanische Revolution noch nicht die große weltweite Aufmerksamkeit hat­te. Bereits nach der Zerschlagung des asturischen Bergarbeiteraufstands 1934 setzte eine Verhaftungs­ und Fluchtwel­le ein, tausende Arbeiter*innen wurden inhaftiert. Hier begann die enge Kooperation zwischen der spanischen und fran­zösischen Sektion der IRH. In Paris be­fand sich auch nach dem Machtantritt der Nazis das europäische Zentrum der IRH. „Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland waren gigantische Aufgaben auf die IRH zuge­ kommen. Es war nicht nur ein immenser Zuwachs an politischen Gefangenen zu betreuen, auch die Amnestie­Kampagnen für politische Gefangene häuften sich (S. 488 ff.)“, schreibt Studer. Zu den IRH­ Mitarbeiter*innen gehörten auch die von Studer als „antagonistisches Liebespaar“ (S. 489) klassifizierten Kommunist*innen Vittorio Vidali und Tina Modotti. Der ita­lienische Berufsrevolutionär und die mexikanische Fotografin waren ab 1933 schwerpunktmässig für die Betreuung des illegalen Apparats in der Pariser IRH­ Zentrale zuständig, das im Gebäude des französischen Roten Kreuzes eingerichtet worden war. Nach Studer war die Wahl kein Zufall. Vor allem nach außen sollte die humanitäre Hilfe der Gefangenen im Vordergrund stehen. Daneben galt es aber die illegal arbeitenden IRH­Zweigstel­ len in verschiedenen westeuropäischen Ländern zu unterstützen, eine Aufgabe, die nach den Recherchen von Studer Vidali und Modotti zufiel. Nicht nur in Deutschland, auch im faschistischen Ita­lien, im austrofaschistichen Österreich, aber auch in Portugal waren schon nach 1933 die Kommunist*innen und auch die IRH verboten und konnten nur noch konspirativ arbeiten. Allerdings gehörte zur IRH­-Arbeit auch viel unspektakuläre Recherche­-Tätigkeit. „Als Referentin in der Internationalen Roten Hilfe in Mos­kau hatte Tina Modotti tagelang Zeitun­gen und Zeitschriften für die ihr zugeteil­ten Länder zu lesen, das wichtigste zu­ sammenzufassen und daraus periodisch zu den Sitzungen der Politkommission des Exekutivkomitees der Kommunisti­schen Internationale (EKKI) Bericht zu erstatten“ (S. 536), beschreibt Studer die revolutionäre Alltagsarbeit. Mit dem Beginn der Spanischen Revolution wuch­ sen die Aufgaben für die IRH noch einmal deutlich. „Modotti war in Spanien mit Arbeit überhäuft. Auf kommunistischer Seite war es die Rote Hilfe, welche die humanitäre (oder protohumanitäre) Hilfe durchführte“ (S. 494), schreibt Studer. Gleichzeitig gab es eine Neustrukturie­rung der IRH, die vor allem von Vidali ausging, der die Solidaritätsorganisation auf eine breitere gesellschaftliche Grund­ lage stellen wollte. Dabei berief er sich auf die berühmte Dimitroff­Rede beim 7. Weltkongress der Komintern von 1935, auf der er der IRH Sektierertum und Büro­kratismus vorgeworfen hatte. Diese Kritik bezog sich vor allem auf die interne Orga­nisation, nicht auf die IRH­-Kampagnen, die ja schon früh größere gesellschaftli­che Gruppen einbezog. In Spanien sollte die Socorro Rojo sogar zur populärsten Organisation einer Einheitsfront von un­ten gemacht werden, wobei die Kommunistische Partei Spaniens allerdings ihren Einfluss nicht aufgeben sollte. Die Neustrukturierung hatte was die Mitglie­derzahlen betraf Erfolg. „Die Rote Hilfe, die ihre ganze Kraft in die Unterstützung der republikanischen Seite warf, wuchs in dieser Zeit sowohl in Spanien als auch in Frankreich exponentiell an“ (S. 496), schreibt Studer. In Frankreich haben sich die Mitgliederzahlen zwischen 1934 und 1937 vervierfacht, in Spanien war das Wachstum noch größer. 1939 war sie auf 900.000 Mitglieder angewachsen. Dabei kooperierte die IRH auch mit einer Orga­nisation, die medizinische Hilfe leistete. Doch auch in Spanien wurden die Hoff­nungen der transnationalen Linken weit über die Kommunist*innen hinaus ent­täuscht. Die spanische Revolution endete in der Niederlage, die von Hitler­-Deutsch­land und Mussolini-­Italien unterstützten Franco­-Faschisten eroberten die Macht. Eine beispiellose Terrorwelle setzte über­ all ein, wo sie sich durchgesetzt hatten. Wieder waren es auch die Aktiven der IRH, die dem Terror besonders ausgesetzt waren. Viele überlebten nicht.

Ein Netzwerk transnationaler Solidarität

Studer verschweigt auch nicht die Op­fer der stalinistischen Prozesse auch in den Reihen der IRH. Im Schlusskapi­tel versucht sie sich an einer kritischen Würdigung des Engagements der trans­nationalen Linken zwischen 1919 bis zur Auflösung der Komintern 1943. „Die Geschichte der ersten Hälfe des 20. Jahrhunderts lässt sich ohne die Geschichte der Komintern nicht verstehen. Die Ko­mintern bildete ein einmaliges weltum­spannendes, transnationales Netzwerk … Sie unterstützte Befreiungsbewegun­ gen und gab zahlreichen unterdrückten Gruppen, Klassen, Geschlechtern, Völ­kern sowie ‚Rassen‘ eine Stimme. Die dabei geschaffenen und immer wieder aufgelösten und erodierenden globalen Solidaritäten entstanden aber nur dank dem fast unermüdlichen Engagement von Einzelnen“ (S. 546). Die IRH hatte in diesem transnationalen Solidaritätsnetz­ werk ihren festen Platz. 