Da ist die Schweizer Historikerin Brigitte Studer eine lobenswerte Ausnahme. In ihrer im Suhrkamp-Verlag veröffentlichten über 600seitigen Geschichte der Komintern nimmt sie die Protagonist*innen ernst. „Weshalb engagieren sich Menschen als internationale Berufs revolutionäre, selbst auf die Gefahr hin, ihr Leben dabei zu verlieren? Weshalb wählten sie ein unsicheres, nomadisches Leben? Weshalb stürzten sie ihr ganzes Selbst in ein Leben für die Komintern?“ Diese Fragen …
… im Klappentext bewegen Studer, die die die Aktivist*innen poetisch als „Reisende der Weltrevolution“ bezeichnet.
Dabei zeigt Studer auf, dass viele Debatten, die aktuell in der globalen linken Bewegung diskutiert werden, bereits in der Komintern nicht nur Thema waren, sondern zumindest in Ansätzen umgesetzt wurden. So beschreibt sie die internationalistischen Aktivitäten des besonders umtriebigen Komintern-Funktionärs Willi Münzenberg als „Aufbau eines globalen antikolonialen Solidaritätsraums“ (S. 262). „Der von ihm in Bewegung gesetzte Prozess kann als Evolution von einer proletarischen internationalistischen Philanthropie zu einer transnationalen antiimperialistischen Politik charakterisiert werden“ (S. 263). Mit der Gründung der Antiimperialistischen Liga zum Kampf gegen Imperialismus und für nationale Befreiung habe Münzenberg die Kolonialpolitik in die Herzen der Metropolen geholt, so Studer.
Internationale Rote Hilfe spielt wichtige Rolle
Natürlich waren die transnationalen kommunistischen Revolutionär*innen von Beginn an einer massiven Repression der Staatsapparate der bürgerlichen Welt ausgesetzt. Schon die Anreise zu den Tagungen der Komintern waren lebensgefährlich wie Hilde Kramer, die dort in den Anfangsjahren im Sekretariat arbeitete, im Zusammenhang mit dem zweiten Weltkongress der Komintern 1920 beschreibt: „Die Rückfahrt der Kongress delegierten war nicht immer einfach. In der Tat kamen nicht alle heil zurück. Drei junge Franzosen und ihr Übersetzer ertranken, als sie zur Umgehung der Blockade der Alliierten die Überfahrt mit einem kleinen Fischerboot von Murmansk aus wagen. Zwei griechische Delegierte wurden vermutlich von den Besitzern des kleinen Boots, mit dem sie zur Rückfahrt übersetzten ermordet, zwei türkische von der Polizei, die sie im Marmarameer ertränkte“ (S. 96), zitiert Studer aus den Erinnerungen von Hilde Kramer. Daher war die Solidarität gegen diese vielfältigen Angriffe eine wichtige Aufgabe der Komintern. Deshalb wird auch die Internationale Rote Hilfe (IRH), die beim 4. Weltkongress der Komintern im November 2022 – also vor 100 Jah ren – gegründet wurde, in Studers Arbeit immer wieder erwähnt. So gab es 1931 eine wesentlich von der IRH organisierte Kampagne für die in China verhafteten Schweizer Komintern-Mitarbeiter*innen Paul und Gertrud Ruegg, denen die Todesstrafe drohte. „Wie immer hatte Münzenberg auch seine Kontakte für ein internationales Verteidigungskomitee (mit Henri Barbusse als Präsident) und für zahlreiche Petitionen mobilisiert: von Albert Einstein über den Maler Paul Klee, den Schriftsteller Maxim Gorki, den Graphiker John Heartfield, den rasenden Reporter Egon Erwin Kisch, die Journalistin und Autorin Agnes Smedley, den alten und den neuen Bauhausdirektor Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe und den nicaraguanischen Guerillaführer Augosto Sandino bis zu Frau Sun Yatsen (Song Qingling)“ (S. 367), beschreibt Studer die klassische Taktik der IRH mit prominenten Namen aus aller Welt Druck aufzubauen, um von Repression bedrohte Genoss*innen zu schützen. Bei dem Ehepaar Ruegg gelang es. Doch die wesentlich auch von der IRH mitgetragene Kampagne für die Rettung der in den USA wegen einer falschen Mordanklage mit der Todesstrafe belegten Syndikalisten Sacco und Vanzetti scheiterte trotz der weltweiten Proteste, die weit über das linke Spektrum hinausgingen. Beide wurden hingerichtet.
Zäsur nach 1933
Der Machtantritt der Nazis in Deutschland war auch für die IRH eine Zäsur. Schließlich war Berlin für sie wie für alle der Komintern angeschlossenen Nebenor ganisationen bis 1933 eine zentrale Organisationsbasis. „Wie ein Kartenhaus fiel die mächtigste kommunistische Partei außerhalb der Sowjetunion mit all ihren Massenorganisationen in sich zusammen. Die Bestürzung unter den Parteiangehörigen war groß“ (S. 389), beschreibt Studer die Stimmung nach der Niederlage in Deutschland und stützt sich dabei auf viele zeitgenössische Quellen. Die Umstellung auf konspirative Arbeit fiel vielen nicht leicht. „Auf der Straße begegne ich manchmal Mitarbeitern der Roten Hilfe. Wir gingen schweigend aneinander vorbei, wechselten nur Blicke, machten eine Handbewegung und trafen uns in einer Seitengasse“ (S. 391) zitiert Studer die Schweizer Komintern-Mitarbeiterin Mentona Moser über die Situation in Berlin im März 1933. Die IRH, die durch die massive Zunahme der Repression durch den Faschismus an der Macht notwendiger denn je war, musste nun selber neue Orte suchen, in denen ihre Weiterarbeit möglich war. So konnte sich die IRH auch erst im Herbst 1933 in die Kampagne zur Rettung der Kommunisten im Reichstagsbrandprozess einschalten und richtete dafür in Paris ein Kampagnenbüro mit zusätzlichem Personal ein. Auch hier spielte Münzenberg wieder die zentrale Rolle, der hier auch die Bündniskonzeption der Wende zur Volksfront vorwegnahm, die die Komintern ab 1934 einleitete. „Aus dem Kampf gegen den Faschismus wollte er einen Kampf für die Freiheit und die Allianz zwischen Arbeiterbewegung und anderen demokratischen sowie progressiven Kräften machen“ (S. 407), beschreibt Studer die politische Agenda von Münzenberg, die in der Arbeit der IRH schon vorher angewendet wurde, wie die von zahlreichen bürgerlichen Intellektuellen aus aller Welt unterstützten IRH- Kampagnen zeigt.
Spanien im Herzen
Im Kapitel über die spanische Revoluti on gibt es ein eigenes Unterkapitel, das sich detailliert mit der Arbeit der IRH in diesem weltweit beobachteten Kampf zwischen den Kräften des Faschismus und ihren Gegner*innen befasst. Die IRH war laut Studer die erste kommunistische Organisation, die sich in Spanien nie derließ. Denn ihre Arbeit begann bereits als die spanische Revolution noch nicht die große weltweite Aufmerksamkeit hatte. Bereits nach der Zerschlagung des asturischen Bergarbeiteraufstands 1934 setzte eine Verhaftungs und Fluchtwelle ein, tausende Arbeiter*innen wurden inhaftiert. Hier begann die enge Kooperation zwischen der spanischen und französischen Sektion der IRH. In Paris befand sich auch nach dem Machtantritt der Nazis das europäische Zentrum der IRH. „Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland waren gigantische Aufgaben auf die IRH zuge kommen. Es war nicht nur ein immenser Zuwachs an politischen Gefangenen zu betreuen, auch die AmnestieKampagnen für politische Gefangene häuften sich (S. 488 ff.)“, schreibt Studer. Zu den IRH Mitarbeiter*innen gehörten auch die von Studer als „antagonistisches Liebespaar“ (S. 489) klassifizierten Kommunist*innen Vittorio Vidali und Tina Modotti. Der italienische Berufsrevolutionär und die mexikanische Fotografin waren ab 1933 schwerpunktmässig für die Betreuung des illegalen Apparats in der Pariser IRH Zentrale zuständig, das im Gebäude des französischen Roten Kreuzes eingerichtet worden war. Nach Studer war die Wahl kein Zufall. Vor allem nach außen sollte die humanitäre Hilfe der Gefangenen im Vordergrund stehen. Daneben galt es aber die illegal arbeitenden IRHZweigstel len in verschiedenen westeuropäischen Ländern zu unterstützen, eine Aufgabe, die nach den Recherchen von Studer Vidali und Modotti zufiel. Nicht nur in Deutschland, auch im faschistischen Italien, im austrofaschistichen Österreich, aber auch in Portugal waren schon nach 1933 die Kommunist*innen und auch die IRH verboten und konnten nur noch konspirativ arbeiten. Allerdings gehörte zur IRH-Arbeit auch viel unspektakuläre Recherche-Tätigkeit. „Als Referentin in der Internationalen Roten Hilfe in Moskau hatte Tina Modotti tagelang Zeitungen und Zeitschriften für die ihr zugeteilten Länder zu lesen, das wichtigste zu sammenzufassen und daraus periodisch zu den Sitzungen der Politkommission des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI) Bericht zu erstatten“ (S. 536), beschreibt Studer die revolutionäre Alltagsarbeit. Mit dem Beginn der Spanischen Revolution wuch sen die Aufgaben für die IRH noch einmal deutlich. „Modotti war in Spanien mit Arbeit überhäuft. Auf kommunistischer Seite war es die Rote Hilfe, welche die humanitäre (oder protohumanitäre) Hilfe durchführte“ (S. 494), schreibt Studer. Gleichzeitig gab es eine Neustrukturierung der IRH, die vor allem von Vidali ausging, der die Solidaritätsorganisation auf eine breitere gesellschaftliche Grund lage stellen wollte. Dabei berief er sich auf die berühmte DimitroffRede beim 7. Weltkongress der Komintern von 1935, auf der er der IRH Sektierertum und Bürokratismus vorgeworfen hatte. Diese Kritik bezog sich vor allem auf die interne Organisation, nicht auf die IRH-Kampagnen, die ja schon früh größere gesellschaftliche Gruppen einbezog. In Spanien sollte die Socorro Rojo sogar zur populärsten Organisation einer Einheitsfront von unten gemacht werden, wobei die Kommunistische Partei Spaniens allerdings ihren Einfluss nicht aufgeben sollte. Die Neustrukturierung hatte was die Mitgliederzahlen betraf Erfolg. „Die Rote Hilfe, die ihre ganze Kraft in die Unterstützung der republikanischen Seite warf, wuchs in dieser Zeit sowohl in Spanien als auch in Frankreich exponentiell an“ (S. 496), schreibt Studer. In Frankreich haben sich die Mitgliederzahlen zwischen 1934 und 1937 vervierfacht, in Spanien war das Wachstum noch größer. 1939 war sie auf 900.000 Mitglieder angewachsen. Dabei kooperierte die IRH auch mit einer Organisation, die medizinische Hilfe leistete. Doch auch in Spanien wurden die Hoffnungen der transnationalen Linken weit über die Kommunist*innen hinaus enttäuscht. Die spanische Revolution endete in der Niederlage, die von Hitler-Deutschland und Mussolini-Italien unterstützten Franco-Faschisten eroberten die Macht. Eine beispiellose Terrorwelle setzte über all ein, wo sie sich durchgesetzt hatten. Wieder waren es auch die Aktiven der IRH, die dem Terror besonders ausgesetzt waren. Viele überlebten nicht.
Ein Netzwerk transnationaler Solidarität
Studer verschweigt auch nicht die Opfer der stalinistischen Prozesse auch in den Reihen der IRH. Im Schlusskapitel versucht sie sich an einer kritischen Würdigung des Engagements der transnationalen Linken zwischen 1919 bis zur Auflösung der Komintern 1943. „Die Geschichte der ersten Hälfe des 20. Jahrhunderts lässt sich ohne die Geschichte der Komintern nicht verstehen. Die Komintern bildete ein einmaliges weltumspannendes, transnationales Netzwerk … Sie unterstützte Befreiungsbewegun gen und gab zahlreichen unterdrückten Gruppen, Klassen, Geschlechtern, Völkern sowie ‚Rassen‘ eine Stimme. Die dabei geschaffenen und immer wieder aufgelösten und erodierenden globalen Solidaritäten entstanden aber nur dank dem fast unermüdlichen Engagement von Einzelnen“ (S. 546). Die IRH hatte in diesem transnationalen Solidaritätsnetz werk ihren festen Platz.
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