»Der Erreger« zirkuliert in der linken Subkultur. Trotz mancher Fehleinschätzungen lohnt sich die Lektüre

Gegen die Sterilisierung des Lebens

»Der Erreger« hat einen Querschnitt dieser Beiträge dokumentiert. Sie sind lesenswert, selbst wenn man mit den politischen Prämissen der Autor*innen nicht übereinstimmt. Schließlich regen die Texte zu Kritik und Widerspruch an. Er kann für 5 Euro bestellt werden über dererreger@posteo.de

Im August vergangenen Jahres sorgte ein Bild für Diskussionen: Es zeigt Menschen, die sich in Kleinstfahrzeugen mit Glaskapsel ohne Kontakt zu ihren ebenfalls in einer Kapsel befindlichen Mitmenschen fortbewegen. »Leben im Jahr 2022« wurde es kommentiert. Schnell stellte sich heraus, dass es sich um ein Bild des italienischen Comic-Zeichners Walter Molino aus dem Jahr 1962 handelt, das isolierte Monaden im kapitalistischen Alltag zeigt. Dieses Motiv haben die Herausgeber*innen von »Der Erreger« zum Titelblatt ihrer …

… 94-seitigen Broschüre mit den Untertitel »Texte gegen die Sterilisierung des Lebens« gewählt. In knapp 30 Aufsätzen werden die Corona-Maßnahmen und ihre Auswirkungen kritisch beschrieben, mit Skepsis und Ablehnung wird auf das »Virus als Staatsräson« geblickt. Ein wiederkehrender Gedanke ist, dass schon in der spätkapitalistischen Verfassung der Menschen etwas angelegt gewesen sei, dass sie die Maßnahmen und die damit einhergehende Entsolidarisierung noch begrüßen – oder im psychoanalytischen Sinne »genießen« – haben lasse.

Der Erreger« versteht sich als radikale Gegenöffentlichkeit, das Heft zirkuliert klandestin und ohne Internetpräsenz. Die Autor*innen schlagen einen Bogen von der Corona- zur Klima- und Umweltkrise bis zu den verschiedenen medialen Moraldebatten der vergangenen Monate. »In Zeiten des pandemischen Ausnahmezustands ist der Körper tatsächlich zu dem menschheitsgefährdenden Ding geworden, zu dem ihn die Klimaschützer*innen schon lange erklären«, schreibt Leo Krovich in dem Text »Im Würgegriff des sanften Zwangs«. Bessere Beiträge ziehen solche Verbindungen treffend, andere weniger. Wenn beispielsweise der langjährige, inzwischen abtrünnige Autor der antideutschen Zeitschrift »Bahamas« Horst Pankow die Klimabewegung als »apokalyptische Reiterinnen« bezeichnet, könnte das ein polemischer Einstieg in eine Debatte über die Sehnsucht am Weltuntergang in Teilen der Umweltbewegung sein. Doch dann echauffiert sich der Autor vor allem bloß über die Aktivist*innen von »Fridays for Future«.

Weit treffender sind die Texte, wo auf die Veränderungen der Subjektivität aufmerksam gemacht wird, die vom digitalen Kapitalismus benötigt werden. Das sollte aber nicht zur Kulturkritik verführen, wovon manche der Texte im »Erreger« durchaus nicht frei sind. Vielen Beiträgen ist in Inhalt und Stil anzumerken, dass manche der Autor*innen von den sogenannten Antideutschen kommen. Obzwar mit Ideologiekritik und den Theorien der Frankfurter Schule angetreten, hat sich dieses Milieu sehr verändert – seit man vor knapp mehr als 30 Jahren mit der »Wiedervereinigung« das »Vierte Reich« heraufziehen sah. Manche sind inzwischen weit rechts gelandet und haben ihre publizistische Heimat auf Blogs wie »Achse des Guten« gefunden. Die »Bahamas« preist in ihrer aktuellen Ausgabe über mehrere Seiten die Springer-Presse, die Corona-Krise wird dort aber nur am Rande erwähnt. Das Schweigen über den pandemischen Ausnahmezustand wurde der Zeitschrift in einem Offenen Brief vorgeworfen. Die Verwerfungen im ideologiekritischen Umfeld sind teils heftig – auch und insbesondere seit Corona, wie »Der Erreger« zeigt.

Auseinandersetzungen gab es schon zuvor, die alten Konfliktlinien kehren teils wieder: Vor knapp 20 Jahren kam es zum Krach zwischen der »Bahamas« und der Linksabweichung »Antideutsche Kommunisten«. Letztere publizierten seit 2004 im »Magazin«, das 2010 eingestellt wurde. Das weiterbestehende Blog magazinredaktion.tk wurde nach dem Corona-Lockdown zum Forum von Maßnahmenkritiker*innen, die mit Verweis auf die Schriften der Frankfurter Schule gegen die »körperlose Gesellschaft« und »paranoide Charaktermasken« polemisiert. »Der Erreger« hat einen Querschnitt dieser Beiträge dokumentiert. Sie sind lesenswert, selbst wenn man mit den politischen Prämissen der Autor*innen nicht übereinstimmt. Schließlich regen die Texte zu Kritik und Widerspruch an. Und das in Zeiten, in denen in der Linken die Kritikfähigkeit nicht sehr ausgeprägt ist und Etiketten wie »Querdenker*innen« und »Coronaleugner*innen« äußerst freigiebig und gedankenlos verteilt werden.

»Der Erreger« kann für 5 Euro bestellt werden über dererreger@posteo.de