Rüdiger Haude/Thomas Wagner: Herrschaftsfreie Institutionen. Graswurzelrevolution, 248 S., br., 17,90 €.

Wenn Mensch den Menschen nicht mehr befiehlt

Der Rückblick auf anarchistische Gesellschaften im Altertum kann aber nur bedingt Anregungen für heute geben. Die Frage, wie in einer hochtechnologisierten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts eine herrschaftsfreie oder herrschaftsarme Gesellschaft aussehen könnte, ist in aktuellen Kämpfen zu beantworten. Zudem: Auch herrschaftslose Gesellschaften kannten Strafen und Zwang, und die Geschlechterverhältnisse waren durchaus nicht egalitär.

Noch immer setzen viele linken Autor*innen Anarchie mit Chaos und Gewalt gleich. Die Vorstellung von herrschaftsfreien Gesellschaften wird auch in großen Teilen der Sozialwissenschaft bestritten oder auf vormoderne Gesellschaften beschränkt. Für die Gegenwart jedenfalls wird diesen kein hoher politischer Stellenwert beigemessen. Die Kulturwissenschaftler Thomas Wagner und Rüdiger Haude haben bereits 1999 …..

….. eine Rehabilitationsschrift für herrschaftslose Gesellschaften verfasst; sie fand in Fachzeitschriften einige Resonanz und ist seit Langem vergriffen. Nun ist sie aktualisiert wieder auf dem Markt.

Den Autoren geht es um eine neuerliche Anregung von Fantasie, wie heutzutage der Abbau von Herrschaft ermöglicht werden kann. In ihrer Einleitung räumen sie das gängige Missverständnis aus, dass Herrschaftslosigkeit auch ein Fehlen von Institutionen generell bedeutete. Im ersten Kapitel befassen sie sich mit den »Tendenzen und Strategien sozialwissenschaftlicher Anarchieverdrängung«. In einer auch für Laien verständlichen Sprache zeichnen sie die wissenschaftliche Diskussion nach, die einem Klischee im Alltagsbewusstsein folgt bzw. dieses befördert: Die Menschen könnten nicht miteinander und zusammen leben, ohne dass jemand ihnen sagt, »wo es langgeht«.

Haude und Wagner bieten einen rasanten Ritt durch eine über 2000-jährige Philosophiegeschichte, die mit Aristoteles und Platon beginnt und bei Marx nicht endet. Ausführlich gehen sie auf die Kontroverse zwischen dem liberalen Theoretiker und zeitweiligen FDP-Politiker Ralf Dahrendorf und dem Soziologen Christian Sigrist in den 60er Jahren ein. der 2015 verstorbene Sigrist trat nicht nur theoretisch für die herrschaftsfreie Gesellschaft ein. Er engagierte sich beispielsweise in den 70er Jahren gegen die Isolationshaft der RAF-Gefangenen, weshalb ihn seine Universität Münster maßregeln wollte, was durch eine Solidaritätskampagne verhindert werden konnte.

Frappierend ist Wagners Untersuchung von Glücksspielen, Wetten, Tänzen und Lebensweisen in prähistorischen Ethnien, wo er egalitäre Umgangsformen entdeckt. Haude verortet mit Verweis auf das Alte Testament das historische Israel im Kreis der herrschaftsfreien Gesellschaften. Er will belegen, dass Herrschaftslosigkeit auch in Hochkulturen möglich ist. Der Rückblick auf anarchistische Gesellschaften im Altertum kann aber nur bedingt Anregungen für heute geben. Die Frage, wie in einer hochtechnologisierten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts eine herrschaftsfreie oder herrschaftsarme Gesellschaft aussehen könnte, ist in aktuellen Kämpfen zu beantworten. Zudem: Auch herrschaftslose Gesellschaften kannten Strafen und Zwang, und die Geschlechterverhältnisse waren durchaus nicht egalitär. Dennoch: Hier liegt ein Buch vor, das zu lesen und zu diskutieren lohnt.

Peter Nowak