Gabriel Kuhn (Hg.): Wobblies, Politik und Geschichte der IWW. Unrast-Verlag, Münster 2019, 152 Seiten, 13 EUR.

Organisierung der Prekären

Gabriel Kuhns Buch »Wobblies« liefert einen historischen Abriss der Gewerkschaft Industrial Workers of the World und stellt ihre Aktualität heraus

Eine Gewerkschaft, die ihren Fokus auf die Organisierung der schwer zu organisierenden Beschäftigten, auf Erwerbslose, Teilzeit- und Wanderarbeiter*innen, richtet – das klingt sehr modern. Und doch widmete sich bereits vor mehr als 100 Jahren eine heute weitgehend unbekannte Gewerkschaft der Organisierung der Prekären. Der Publizist und ak-Autor….

…. Gabriel Kuhn gibt in seinem neuen Buch »Wobblies« einen guten Überblick über Politik und Geschichte der 1905 gegründeten und bald auf fünf Kontinenten aktiven Gewerkschaft »Industrial Workers of the World«, kurz IWW. »Arbeiter*innen dürfen nicht dazu missbraucht werden, den Lohn anderer Arbeiter*innen zu senken – oder deren Kinder zu töten«, zitiert Kuhn aus der Schri »What is this IWW?« von Fred Thompsen, einem Historikers der US- Arbeiterbewegung. In ihrer Grundsatzerklärung erklärte die IWW, sie wolle dafür sorgen, »dass die Arbeiter der Welt sich als Klasse vereinigen, vom Boden und den Produktionsmitteln Besitz ergreifen und die Lohnarbeit abschaffen«. Anders als viele sozialdemokratische Gewerkscha en nahm die IWW ihre Programmpunkte ernst. Deswegen stan- den ihre Aktivist*innen ständig im Visier von der Polizei und den Pinkertons, den von den Konzernen finanzierten Sicherheitsdiensten, die auch vor der Ermordung von Gewerkschafter*innen nicht zurückschreckten. Mit dem Ersten Weltkrieg und mehr noch nach der Oktoberrevolution wuchs auch der staatliche Terror gegen die Gewerkscha fter*innen. Der 1915 aufgrund eines Verbrechens, das er nicht begangen hat, hingerichtete Wobbly-Sänger Joe Hill ist durch den gleichnamigen Song von Joan Baez bis heute bekannt. Gabriel Kuhn richtet sein Augenmerk auf die namenlosen Aktivist*innen der IWW. In dem Band sind »Die Erinnerungen eines Wobbly« von Henry E. McGuckin erstmals in deutscher Sprache veröffentlicht. Dort berichtet der langjährige IWW-Aktivist im Alter von 74 Jahren über den Alltagskampf eines IWW-Aktivisten in den 1910er und 1920er Jahren. Schon diese wichtigen historischen Reminiszenzen machen das Buch lesenswert.

Doch Kuhn stellt auch die Aktualität der Wobblies heraus. Die Basis der IWW waren vor 100 Jahren die Hobos, die Wanderarbeiter*innen, die auf der Suche nach einem Arbeitsplatz durch die USA zogen. Von der bürgerlichen Gesellschaft verachtet und verleumdet, entwickelten sie einen eigenen Hobo-Stolz, der sie auf Distanz zu allen Obrigkeiten hielt: Polizei sowie konzerneigene Sicherheitsdienste machten Jagd auf Wanderarbeiter*innen, die sich bei den Wobblies organisieren wollten. Doch die Repression führte nicht zur Einschüchterung, sondern zu größerer Entschlossenheit und zur Herausbildung eines Klassenbewusstseins.

Eine wichtige Rolle dabei spielten die von der IWW eingerichteten Treffpunkte. Die frühen IWW-Treffen fanden in den sogenannten Hobo-Dschungeln entlang der Eisenbahnlinien statt, die mit Kochgeschirr, Feuerstellen und Decken, die zur Übernachtung benötigt wurden, ausgestattet waren. Hier lernten sich die verstreut arbeitenden Hobos kennen, hier Kampferfolge gefeiert. Später wurden die IWW-Häuser, die es vor 100 Jahren in allen Industriestädten gab, zum Treffpunkt der Arbeiter*innen. »Das typische IWW- Haus war Büroraum, Bibliothek, Ver- sammlungsort und Herberge zugleich«, schreibt Kuhn. Diese IWW-Häuser wurden zu Schulen des Klassenkampfes. Sie waren bei den Arbeiter*innen so beliebt, weil sie den verstreut lebenden Hobos einen Treffpunkt gaben. Bei Kapital und Staat waren sie jedoch verhasst. Immer wieder wurden IWW-Häuser geschlossen und zerstört, wie McGuckin beschreibt.

Die IWW-Häuser waren gewissermaßen die ersten Working Center, Einrichtungen, die in der letzten Zeit in den USA eine Renaissance erleben. (siehe ak 638) Denn durch die Digitalisierung nimmt die Zahl der individualisierten Arbeitsverhältnisse erneut zu. Es wird von den modernen Hobos gesprochen. Was vor 100 Jahren die Bahnlinien waren, können heute die Treffpunkte sein, wo die Fahrradkurier*innen und andere auf App-Basis Beschäftigte auf Kund*innen und Aufträge warten. Dort tauschen sie ihre Erfahrungen über ihre Arbeit aus. Dort schmieden sie Pläne für den Kampf für mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen, wie das Beispiel der Deliverunion zeigt, eine basisgewerkschaftliche Organisierung bei den Lieferdiensten. Mittlerweile eröffneten in mehreren Städten Working Center, wie im Sommer 2018 im Berliner Stadtteil Wedding das Kiezhaus Agnes Reinhold. In dem nach einer Berliner Anarchistin benannten Treffpunkt haben sich Beschäftigte des Hostels Wombarts aus Berlin-Mitte ebenso getroffen wie Mitglieder der AG Taxi bei der Berliner Dienstleistungsgewerkschaft ver.di.

Peter Nowak

 

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