Zwei Bücher zur Geschichte und Aktualität der »Wobblies« – einer Gewerkschaft für Beschäftigte, die auf der Suche nach Arbeit umherzogen.

Die Hobos von heute

Gabriel Kuhn: Wobblies. Politik und Geschichte der IWW, Unrast-Verlag, 152 S., 13 €. Torsten Bewernitz: Syndikalismus und neue Klassenpolitik. Eine Streitschrift. Die Buchmacherei, 70 Seiten, 7 €.

Vor allem die Hippie-Bardin Joan Baez hat mit ihrem vor 50 Jahren auf dem Woodstock-Festival vorgetragenen Song »Joe Hill« dazu beigetragen, dass der Name des 1915 hingerichteten Sängers noch heute bekannt ist. Hill war für den Mord an einem Ladenbesitzer hingerichtet worden, den er wohl nicht begangen hatte. Doch Polizei und Justiz war er als Künstler, der der Gewerkschaft »Industrial Workers of the World« (IWW) nahe stand, ein Dorn im Auge. Schließlich unterstützte er…

….die Streiks und Aktionen dieser 1905 in den USA gegründeten Gewerkschaft – die mehr als zwei Jahrzehnte für eine heute fast vergessene Geschichte von oft militanten amerikanischen Arbeitskämpfen stand.

Kürzlich hat Gabriel Kuhn eine kleine Geschichte der IWW herausgegeben. Das 152-seitige Buch trägt den Titel »Wobblies«. Unter diesem Namen wurde die IWW vor einem Jahrhundert weltweit bekannt und in gewisser Weise zum Schrecken der Kapitalisten. Den Ursprung des Namens »Wobblies« kann zwar auch Kuhn nicht klären, doch zeigt er in seinem gut lesbaren Buch, dass es sich lohnt, sich mit der IWW zu befassen – und nicht nur zu geschichtlichen Zwecken. Denn was sich diese Gewerkschaft damals zur Aufgabe machte, klingt in vielerlei Hinsicht sehr aktuell: Eine »Konzentration auf die Organisierung der Unorganisierbaren: Arbeitslose, Teilzeitarbeiter*innen und Wanderarbeiter*innen« arbeitet Kuhn als den politischen Fokus IWW heraus.

Dies war eine Reaktion auf neue Technologien, die zu dieser Zeit Arbeitsverhältnisse umwälzten – Parallelen zur Gegenwart liegen auf der Hand: War es damals die Einführung der Fließbänder, für die der Autokonzern Ford zum Sinnbild wurde, ist heute eine grundlegende Umwälzung der Arbeitsverhältnisse mit der Digitalisierung verbunden. Wie vor einem Jahrhundert stellt sich aktuell wieder die Frage, wie sich Menschen organisieren können, die in prekären Beschäftigungsverhältnissen individualisiert und flexibilisiert leben und arbeiten – etwa jene Heerscharen an Lieferpersonal, das neuerdings durch die Städte fährt und radelt.

Die Basis der IWW waren die Hobos – aussortierte Beschäftigte, die auf der Suche nach Arbeit und Auskommen kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten irrten. Von der bürgerlichen Gesellschaft wurden diese Wanderarbeiter verachtet und verleumdet. Doch entwickelten sie auch eine Art Hobo-Stolz, der sie auf Distanz zu allen Obrigkeiten hielt: »Ein Hobo war weder ein Landstreicher, ein Tramp, noch ein Penner, ein Bum«, definiert Kuhn die feinen Unterschiede. »Der Hobo zieht umher und arbeitet, der Tramp zieht umher und träumt und der Bum zieht umher und säuft«, zitiert er den damals als »Hobo-Doktor« bekannt gewordenen Arzt Ben Reitmann, der in Chicago Tausende Wanderarbeiter kostenlos behandelte.

Die Polizei sowie private Sicherheitsdienste mochten zwar Jagd auf die Hobos machen – zumal dann, wenn sie sich bei den Wobblies organisieren wollten, doch die Repression führte nicht zur Einschüchterung, sondern zu Entschlossenheit, der Herausbildung eines kollektiven Bewusstseins dieser Klassenfraktion. Eine wichtige Rolle dabei spielten die Treffpunkte, die von der IWW überall dort eingerichtet wurden, wo viele Hobos vorbeikamen: Zuerst fanden diese Treffen in den »Hobo-Dschungeln« entlang der Eisenbahnlinien statt. Zum Inventar gehörten Kochgeschirr, Feuerstellen und Decken für eine bessere Übernachtung. Hier konnten sich die verstreuten Hobos kennenlernen, hier wurden Streiks beschlossen und auch Kampferfolge gefeiert. Später errichtete man regelrechte IWW-Häuser, vor 100 Jahren gab es sie in allen Industriestädten der USA: »Das typische IWW-Haus war Büroraum, Bibliothek, Versammlungsort und Herberge zugleich«, fasst Kuhn zusammen. Dort entstand eine Wobblie-Kultur, getragen von Sängern wie eben Joe Hill – ein geselliges Leben jenseits von Kirche, Spielhölle und auch Bordellen. Die IWW-Häuser wurden auf diese Weise zu förmlichen Schulen des Klassenkampfs.

Die Wobblies sind, obwohl die Organisation mit heute weltweit etwa 3000 Mitgliedern weiter besteht, in ihrer Wirkmacht weitgehend Geschichte. In Deutschland ist die bedeutendste IWW-Gruppierung – die »Internationale Seemanns-Union«, die in den 1920er Jahren schwerpunktmäßig in den Häfen von Danzig und Stettin verankert war und Berufsgruppen wie Schauerleute und Maschinisten zu einigen Aktionen organisierte – heute ein Fall für die Geschichtsexperten. In den USA aber scheinen die Organisationsformen der Wobblies mit ihren Treffs und Häusern als »Working-Center« eine gewisse Renaissance zu erleben. Denn durch die Digitalisierung sind individualisierte Arbeitsverhältnisse abermals auf der Tagesordnung, so dass mitunter schon von »modernen Hobos« gesprochen wird.

Was vor 100 Jahren die Hobo-Dschungel an den Bahnlinien waren, könnten heute die Treffpunkte in Parks sein, wo das Personal von Fahrradkurierdiensten und ähnlichen Dienstleistern auf Aufträge wartet. Dort tauschen sie ihre Erfahrungen mit ihrer Arbeit aus. Dort können sie Pläne schmieden – auch für einen Kampf für mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen, wie das Beispiel der »Deliverunion« zeigt, einer basisgewerkschaftlichen Organisierung bei den Lieferdiensten.

Auch in Deutschland sind in der letzten Zeit in mehreren Städten derartige Zentren entstanden, in denen sich Beschäftigte teils auch mit Stadtteilgruppen koordinieren. So wurde im Sommer 2018 im Berliner Stadtteil Wedding das »Kiezhaus Agnes Reinhold« eröffnet. In dem nach einer Berliner Anarchistin benannten Treffpunkt begegnen sich Beschäftigte des hinsichtlich der Arbeitsbedingungen umkämpften Hostels »Wombats« aus Berlin-Mitte sowie zum Beispiel auch Mitglieder der »AG Taxi« des Berliner Landesverbands der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. Der Politologe und Gewerkschaftsforscher Torsten Bewernitz bezeichnet in seiner kürzlich im Verlag »Die Buchmacherei« herausgegebenen Streitschrift »Syndikalismus und neue Klassenpolitik« die Gründung von Working-Centern in Deutschland nicht zuletzt als »bitternötiges Gegengewicht zu AfD, Pegida und Co.«

Und ob an solchen Orten auch Joan Baez’ Song über Joe Hill gespielt wird – oder gar die Musik des Protestsängers selbst angestimmt –, müsste man konkret vor Ort ermitteln.