Angriff der Eliten

Vor mehr als 15 Monaten sorgte der ehemalige Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin mit seinem Buch Deutschland schafft sich ab für ein großes Medienecho mit weitreichenden gesellschaftlichen Folgen.

Viele Bücher sind darüber in politisch guter Absicht, aber oft geringer theoretischer Fundierung verfasst wurden. Als Beispiele seien hier das als Anti-Sarrazin-Buch hochgelobte Integrations-unwillige Muslime von Ahmet Toprak oder Anti-Sarrazin von Sascha Stanicic genannt.
Die drei hier vorgestellten Bücher befassen sich mit den Vorläufern Sarrazins und den Auswirkungen der von seinem Buch ausgelösten Debatte auf einem hohen theoretischen Niveau und bleiben auch nach dem Ende des Hypes um Sarrazin lesenswert.

„Dass mediale Ereignis der „Sarrazindebatte“ führte zu einer breiten gesellschaftlichen Verschiebung nach rechts, enttabuisierte rassistisches Denken und verband in besonderer Weise Rassismus mit Elite- und Nützlichkeitsdenken“, so lautet das Fazit des Publizisten Sebastian Friedrich, der im Münsteraner Verlag edition assemblage den Sammelband Rassismus in der Leistungsgesellschaft herausgegeben hat. 15 Autoren aus Politik, Kunst und Wissenschaft analysieren darin die Debatte. In der Einleitung betont der Herausgeber, dass nicht Sarrazin im Fokus der Beiträge stehe. Vielmehr untersuchen die Autorinnen und Autoren die gesellschaftlichen Bedingungen in Deutschland, die das Buch zu einem vieldiskutierten Bestseller gemacht haben nach ökonomischen, soziologischen, psychologischen, kulturwissenschaftlichen, philosophischen und ökonomischen Gesichtspunkten. Die „Leistungsträger gegen die „Unproduktiven“, so laute der zentrale Gegensatz in diesem sozialchauvinistischen Diskurs. Letztere werden auch gerne als „Transferleistungsbezieher“ diffamiert. Dass diese Kategorisierung dehnbar ist und damit Erwerbslose genau so gemeint sein können, wie ganze Staaten, zeigt die jüngste Kampagne gegen die „Pleitegriechen“. Eine solche Ideologie wurde nicht selten als „Nützlichkeitsrassismus“ bezeichnet, womit allerdings die Gefahr besteht, das Spezifische rassistischer Diskriminierung aufzulösen.Sinnvoller scheint die Bezeichnung „Sozialchauvinismus“, verstanden als Feindseligkeit gegen alle, die nicht ins Idealbild einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft passen. Dass dieser jedoch mit dem multikulturalistischen Rassismus durchaus kompatibel ist, weist die Kulturanthropologin Sabine Hess in ihrem Beitrag nach: „Die guten, sprich die bunten, kreativen Kulturen in die Karnevalsaufstellung, die schlechten nicht-vermarktbaren Kulturen in die Arbeitszwangsmaßnahme und das Quartiersmanagement“, laute die Devise. Die Soziologin Juliane Karakayali zeigt auf, wie auch aktuelle Spielarten des Feminismus mit rassistischem Denken kompatibel sind. Die Kapitel zu Migration und Rassismus, Bevölkerungs- und Biopolitik, Kapital und Nation bieten viele interessante Anregungen, die beiden Aufsätze in der Sektion Interventionen und Perspektiven bleiben an analytischer Schärfe gegenüber den vorherigen Kapiteln deutlich zurück.
Während sich der von Friedrich herausgegebene Sammelband vor allem mit den Auswirkungen der Sarrazin-Debatte auf die rassistische, deutsche Leistungsgesellschaft befasst, sieht das Autorenduo Martin Zander und Thomas Wagner in ihrem bei Spotless herausgegebenen Büchlein Sarrazin, die SPD und die Neue Rechte das Hauptmerkmal des „Sarrazinismus“ in der Annäherung von Teilen der gesellschaftlichen Elite an die BildzeitungsleserInnen. Während die Debatte in großen Teilen der Medien sich vor allem um Ressentiments gegen Muslime und Muslima drehte, wird von Zander und Wagner herausgearbeitet, dass es sich bei der Sarrazindebatte im Kern um den Ausdruck von Sozialchauvinismus handelt. Der selbsternannte Neoaristokrat und Sarrazin-Verteidiger Peter Sloterdijk hat die Ideologie des Sozialchauvinismus in einem Interview auf den Punkt gebracht: „Während im ökonomischen Altertum die Reichen auf Kosten der Armen“ gelebt hätten, würden in der ökonomischen Moderne die „Unproduktiven mittelbar auf Kosten der Produktiven“ leben. Wagner und Zander untersuchen auch einige von Sarrazins Quellen. So zum Beispiel das 1994 erschienene Buch The Bell Curve von Richard Herrnstein und Charles Murray, mit dem die These von der genetisch vererbbaren Intelligenz popularisiert wurde. Statt Programme zur Bekämpfung von Armut forderten sie mehr staatlichen Druck auf die Armen. Auch der umstrittene, rechte Humangenetiker Volkmar Weiss, der für verschiedene rechte Zeitungschriften und Verlage schreibt und von der sächsischen NPD-Fraktion als Gutachter in die Enquetekommission „Demografische Entwicklung und ihre Auswirkungen für die Lebensbereiche der Menschen im Freistaat Sachsen sowie ihrer Folgen für die politischen Handlungsfelder“ berufen wurde, wird von Sarrazin als Quelle herangezogen. Wagner und Zander sehen in der Sarrazindebatte den Ausdruck einer Naturalisierung gesellschaftlicher Ungleichheit als vermeintlich natürliche Folge von Auslese und Intelligenzverteilung. Damit ist die im letzten Jahrzehnt zunehmend enttabuisierte offene Legitimation von Eliten ebenso verbunden, wie die Abwertung der einkommensschwachen Bevölkerung. Reichtum und Armut werden nicht mehr als Folgen gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern als Ausdruck individuellen Unvermögens und von Vererbung erklärt.
Der Hamburger Sozialwissenschaftler Volker Weiß widmet sich in seinem im Verlag Ferdinand Schöningh veröffentlichten Essay „Deutschlands Neue Rechte. Angriff der Eliten – von Spengler bis Sarrazin“ den Vorläufern Sarrazins in der deutschen Geistesgeschichte. Er weist anhand vieler Zitatbeispiele nach, dass Deutschland schafft sich ab in einer Kontinuitätslinie mit Schriften der republikfeindlichen Rechten der Weimarer Zeit zu sehen ist. „Zwischen dem Schüren von Untergangsängsten, der Durchsetzung von „Ideologien der Ungleichheit“ (Wilhelm Heitmeyer) und dem Streben nach autoritären Herrschaftsformen besteht also ein enger Zusammenhang“, so fasst Weiß zusammen. So gleiche Sarrazins Lamento frappierend den Zeitdiagnosen eines Edgar Julius Jung, der in den zwanziger Jahren eine wichtige Stimme der Konservativen Revolution war. Jung schrieb 1930: „Wenn eine aufgeblähte ärztliche Fürsorge zur künstlichen Erhaltung schwachen, kranken und minderwertigen Lebens führt, während das hochwertige vernachlässigt wird, so ist die Frage berechtigt, ob die Gesamtleistung des Volkes darunter nicht leidet. Ob nicht körperlich, geistig und wirtschaftlich die Kräfte des Volkskörpers sinken. Das bedeutet aber den Niedergang eines Volkes“. Sarrazins achtzig Jahre später formulierte Thesen seien im Ton abgemildert, so Weiß, im Kern aber die Fortsetzung von Jungs völkischem Lamento: Über die schiere Abnahme der Bevölkerung hinaus gefährdet vor allem die Zunahme der weniger Stabilen, weniger Intellektuellen und weniger Tüchtigen die Zukunft Deutschlands“, heißt es aktuell. Auch in dem von seinen Anhängern unterstützten Versuch, sich als Zensuropfer zu inszenieren, wandele Sarrazin auf den Spuren seiner rechten Vorgänger. So habe sich bereits der rechtskonservative Philosoph Arnold Gehlen, der im Nationalsozizalismus Karriere gemacht hatte und in der Nachkriegszeit von Industriekreisen und ihren Denkfabriken gefördert wurde, von den durch die Besatzungsmächten in Westdeutschland unterstützten remigrierten Intellektuellen bedroht gefühlt. Er habe deren „übersteigerten Humanismus“ als bergeordnete Zensurinstanz empfunden. Den heute fast vergessenen FAZ-Literaturkritiker der fünfziger Jahre Friedrich Sieburg führt Weiß ebenfalls als einen geistigen Vorläufer Sarrazins an: „Das restaurative Ruhebedürfnis der Adenauerzeit war dem außer Dienst gestellten Weltmann, der sich in Frankreich in der Rolle eines kulturellen Aushängeschilds des Reichs erfreut hatte, ein Gräuel“. Fortan klagte Sieburg über „die Abdankung der deutschen Kultur“ und den „Bonner Provinzialismus!. Es ist der Verdienst von Weiß, die Verbindungslinien im Denken Sarrazins und seiner Anhänger und dem jener deutschen Rechten kenntlich zu machen, die eine wesentliche Rolle bei der Zerstörung der Weimarer Republik spielten und den Nationalsozialismus ideologisch mit vorbereitet haben. Es wundert nicht, dass sich auch die unterschiedlichen aktuellen Rechtsformationen, so zerstritten sie auch untereinander sein mögen, positiv auf den Berliner Ex-Senatoren bezogen haben. Dass er trotz vollmundiger Erklärungen führender Sozialdemokraten, weiterhin SPD-Mitglied ist, macht deutlich, wie gering die Distanz zwischen der vielzitierten gesellschaftlichen Mitte zu rechten Ideologieversatzstücken ist. Sarrazin war hier nur ein Seismograph. Andere Protagonisten stehen mit rechtem EU-Bashing schon bereit, das zeigen Wagner und Zander im letzten Absatz ihres Büchleins am Beispiel einer Tagung an der Verwaltungsfachhochschule Speyer mit dem Titel „Eurorettung – ein Thema für Wutbürger“. Im letzten Oktober gaben sich dort Thilo Sarrazin, Olaf Henkel, die ehemalige CSU-Politikern Gabriele Pauly sowie der rechte Parlamentskritiker Hans Herbert von Arnim ein Stelldichein. Im Publikum saßen auch sächsische NPD-Funktionäre.

Sebastian Friedrich (Hrsg.): Rassismus in der Leistungsgesellschaft. Analysen und kritische Perspektiven zu den rassistischen Normalisierungsprozessen der „Sarrazindebatte“, editon assemblage, Münster, 2011, 262 S., 19,80.

Thomas Wagner/Michael Zander: Sarrazin, die SPD
und die Neue Rechte. Untersuchung eines Syndroms, Spotless Verlag, Berlin 2011, 160 S., 9,95.

Volker Weiß: Deutschlands Neue Rechte, Angriff
der Eliten
Von Spengler bis Sarrazin, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn u.a. 2011, 141 S., 16,90.

Peter Nowak

Erstveröffentlichungsort:
Dieser Artikel erschien zuerst in Phase 2. Zeitschrift gegen die Realität Frühjahr 2012