Der belgische Sozialist Peter Mertens stellte in Berlin seine Thesen für erfolgreiche linke Politik vor. Doch sind sie auf Deutschland übertragbar?

Politik für die Arbeiterklasse ist der Schlüssel für linke Erfolge

Peter Mertens: Meuterei – wie unsere Weltordnung ins Wanken gerät. Berlin: Brumaire, 2024. 284 S., 19 Euro

Es gibt noch linke Parteien in Europa, die einen Zuwachs an Wähler:innen und Mitgliedern haben. Dazu gehört die …

… belgische Partei der Arbeit (PTB/PVDA). Da ist es kein Wunder, dass das Interesse groß ist, wenn deren Generalsekretär Peter Mertens sein neuestes Buch Meuterei. Wie unsere Weltordnung ins Wanken gerät vorstellt. Schließlich erhoffen sich viele eine Antwort auf die Frage, warum die belgische Linkspartei auf Erfolgskurs ist und was man in Deutschland darauf lernen kann.
Tatsächlich war der Saal des Aquarium, eines linken Veranstaltungsorts in Berlin-Kreuzberg, bis auf den letzten Platz gefüllt. Es waren überwiegend jüngere Menschen, die Mertens schon mit freundlichem Applaus begrüßten, bevor er nur ein Wort gesagt hatte. Schließlich wurde er angekündigt mit den Worten, dass er die PTB/PVDA von einer linken Kleinstpartei in den letzten Jahren auf Erfolgskurs gebracht hat.
Sein Rezept kann man mit wenigen Worten zusammenfassen: Man müsse sich den Lohnabhängigen zuwenden. Nun ist Mertens nicht der erste, der der gesellschaftlichen Linken vorwirft, ihre ganze Misere liege darin, dass sie sich zu wenig um die Nöte und Sorgen der Arbeiter:innenklasse kümmere.
Doch Mertens trägt seine Thesen nicht in Form von ideologischen Grundsätzen vor. Er verwendet wenige Marx-Zitate. Stattdessen hat er sich umgehört bei Arbeiter:innen in vielen Ländern der Welt. Er lässt sie mit ihren Ängsten und Sorgen, aber auch mit ihren Widerständigkeiten zu Wort kommen.
Da ist der Londoner Busfahrer, der das erste Mal im Leben an einem Streik teilgenommen hat, weil die materielle Not zu groß wurde. Er und viele seiner Kollegen konnten von ihrem Lohn nicht mehr leben und mussten zur Essenstafel gehen. Da ist Kath, die Londoner Krankenschwester, die mit ihren Kol­legin­nen wegen der wachsenden Arbeitsbelastung in einen Streik getreten ist. Es sind diese sehr persönlichen Beschreibungen von proletarischen Schicksalen, die Mertens’ Eintreten für die Sache der Lohnabhängigen so glaubwürdig machen.
Zudem spielt Mertens nicht eine Orientierung an den Lohnabhängigen gegen eine angebliche Identitätspolitik aus, wie es Sahra Wagenknecht in den letzten Jahren immer vorführte. Mertens betont ausdrücklich, der Kampf gegen Sexismus und Rassismus sei notwendig, er müsse mit einer klassenkämpferischen Orientierung geführt werden. Was er damit meint, machte er an konkreten Beispielen klar.
Die Arbeiter:innen, die er in seinem Buch erwähnt, heißen Harsev, Bazazo, Emma, Jean, Tim und Liam. Sie kommen aus allen Kontinenten. »Die Klasse der Lohnabhängigen ist in allen westeuropäischen Ländern längst international«, betont Mertens. Der proletarische Kampf gegen Rassismus bestehe darin, dass die Kolleg:innen für die gleichen Rechte kämpfen, egal aus welchen Ländern sie kommen. Es gebe viele historische Beispiele, wo die Parole von der internationalen Solidarität zur gelebten Praxis geworden ist.
Gerade, weil Mertens Klassenpolitik nicht in einen Gegensatz zur Identitätspolitik stellte, bekam er auf der Veranstaltung in Berlin viel Zustimmung. Deswegen ist er auch für die Linkspartei ein Vorbild, die nach dem Abgang des Wagenknecht-Flügels auch noch mit dem Austritt von bekannten Politiker:innen aus dem Reformerlager um Klaus Lederer konfrontiert ist.
Manche, vor allem jüngere Linke sehen genau darin aber die Chance auf eine Erneuerung der Linkspartei. Dabei setzen sie große Hoffnung auf Ines Schwerdtner, die bei der Diskussionsveranstaltung am Freitagabend ein Heimspiel hatte. Schießlich war Schwerdtner jahrelang das bekannteste Gesicht der deutschsprachigen Ausgabe des linken Magazins Jacobin, das die Diskussionsveranstaltung organisierte.
Schwerdtner trat auf der Veranstaltung als frischgewählte Vorsitzende der Linken auf. Es wurde aber auch deutlich, wie hoch der Erwartungsdruck ist. Sie sieht in der PTB/PVDA ein Vorbild. Schließlich stand die Partei vor mehr als 10 Jahren in etwa dort, wo sich heute Die Linke befindet.
Die Rolle des kritischen Beobachters, der vor zu viel Optimismus warnte, nahm auf dem Podium am Freitag Mario Neumann ein. Der parteilose Bewegungslinke arbeitet bei Medico International und spielte vor 15 Jahren eine wichtige Rolle bei den europaweiten Protesten der Blockupy-Bewegung.
Neumann erinnerte daran, dass es seit dieser Zeit verschiedene linke Parteien oder bekannte Personen in unterschiedlichen Ländern gab, die als Hoffnungsträger auch für die gesellschaftliche Linke in Deutschland galten, bis sie selber scheiterten – dazu gehörten u.a. Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien, Corbyn in Großbritannien.
Neumann betonte ausdrücklich, er schätze das Buch von Mertens sowie die praktische Arbeit seiner Partei sehr. Doch man müsse sich immer fragen, was sie von früheren linken Hoffnungsträger:innen unterscheide. Über die spezifischen Bedingungen in Belgien, die den Aufstieg der PTB/PVDA begründeten, wurde am Freitagabend leider nicht geredet.
Dafür vermittelte die thüringische Verdi-Sekretärin Katja Barthold einen guten Einblick in die Mühen der Ebene, die konkreten Herausforderungen für eine linke Politik, die sich an den Lohnabhängigen orientiert. Sie berichtete, wie die Beschäftigten in konkreten Auseinandersetzungen am Arbeitsplatz Selbstbewusstsein entwickeln und sich politisieren.
Sie sprach aber auch über Beschäftigte bei den Verkehrsbetrieben von Apolda, denen seit Jahren die ihnen zustehenden Mitbestimmungsrechte vorenthalten werden. »Was mache ich dann, wenn der einzige LINKE im Aufsichtsrat der Verkehrsbetriebe sich nicht traut, den Konflikt deutlich anzusprechen und sich die rechtspopulistischen ›Bürger für Apolda‹ des Themas annehmen?«, fragt Barthold.
Als positives Beispiel erwähnte sie die Bewegung »Wir fahren zusammen«, eine Kooperation von Klimaaktivist:innen mit der Gewerkschaft Verdi. »Glaubt ja nicht, die Klimaaktivist:innen wären bei den Beschäftigten in den Verkehrsbetrieben mit offenen Armen empfangen worden, als sie ihre Unterstützung bei gewerkschaftlichen Forderungen angeboten haben«, sagte Barthold. Es habe Kolleg:innen gegeben, die es anfangs sogar abgelehnt hätten, mit den als Chaot:innen diffamierten Klimaaktivist:innen auch nur zu reden. Doch sie seien wiedergekommen, hätten in Betriebsversammlungen zugehört, und so sei langsam Vertrauen zwischen Beschäftigten und Unterstützer:innen entstanden.
Diesen langen Atem werden auch die brauchen, die die Linkspartei aus der Krise führen wollen. Ob sie damit Erfolg haben, bleibt ungewiss. Immer neue Vorbilder im Ausland suchen und dann nicht über deren Niederlagen reden, ist nicht die Lösung.

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