Als 2017 der Historienfilm „Der junge Marx“in die Kinos kam, waren manche über die Anfangsszene erstaunt. Sie zeigt keine Arbeiterinnen im Streik oder auf den Barrikaden, sondern Landarbeiterinnen, die Fallholz im Wald sammeln, was damals als Diebstahl galt. Die Feudalherren, die sich den Wald angeeignet haben, ließen ihre Privatarmee auf die Menschen los. Viele wurden schwer verletzt oder ermordet. Diese Szene bezog sich auf die Texte, die Karl Marx in der Neuen Rheinischen Zeitung über das Holzdiebstahlgesetz schrieb, das den Terrorgegen die Landlosen, die das Holz zum Feuermachen sammelten, legitimierte. Diese Szene ist auf zweifache Weise interessant. Erstens wird der Blick auf …
… die Tatsache gelenkt, dass Marx neben seinem Hauptwerk Das Kapital noch…
zu vielen anderen Themen arbeitete, las und schrieb. Zudem rückt mit der
Szene im Wald auch das Thema Umwelt und Natur in den Fokus, das bisher kaum mit Marx und seinem Denksystem in Verbindung gebracht worden ist. Das liegt natürlich in erster Linie an den Nominalsozialisten, die im
Namen von Marx eine riesige fossile Industrie errichteten und wenig Rücksicht auf den Schutz von Natur und Umwelt legten. Dabei konnten sie sich
auf Texte bzw. Textstellen im Kapital berufen, vor allem im Band, der noch
zu Lebzeiten von Marx erschienen ist. Doch in den letzten Jahren wurde zunehmend auch der ökologische Marx entdeckt. Wenig bekannt ist, dass der
dissidente Kommunist Wolfgang Harich schon Mitte der 1970er Jahren seine
Schrift Kommunismus ohne Wachstum? Babœuf und der Club of Rome veröffentlichte. Das im Rowohlt-Verlag herausgegebene Buch wurde damals
auch in der neu entstehenden Umweltbewegung viel diskutiert. Harich suchte
bei seinen Aufenthalten in Westdeutschland Kontakte zu dieser Bewegung.
Leider ist das Buch heute weitgehend vergessen. Bekannter ist heute das Buch
Marx als Ökologe von John Bellamy Foster. Es wird auch in der jüngeren
Klimabewegung rezipiert. Foster beschreibt, wie sich Marx in den 1860er Jahren auch unter dem Eindruck der Lektüre von naturwissenschaftlichen Texten des Chemikers Justus von Liebig zunehmend mit ökologischen Fragen
beschäftigte.
Daran knüpft auch ein Buch an, das in Japan über eine halbe Million
Mal verkauft wurde. Auch in den europäischen Städten sind die Versammlungs-
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räume überfüllt, wenn der japanische Philosophieprofessor Kohei Saito seinen in viele Sprachen übersetzten Bestseller Systemsturz – Der Sieg der Natur
über den Kapitalismus vorstellt. Als der auch zeitweise an der Berliner Humboldtuniversität lehrende Saito Anfang September 2023 das Buch in Berlin
vorstellte, waren die Plätze schnell ausgebucht. Tausende verfolgten die Ausführungen des japanischen Professors digital. Darunter sind auch viele KlimaAktivistinnen, die bisher Marx und seine Theorien eher mit dem umweltschädlichen Produktivismus als mit Umweltbelangen in Verbindung brachten. Ist Engels wieder mal verantwortlich? Ganz falsch, sagt Kohei Saito. In Wirklichkeit sei Marx ein DegrowthKommunist, also ein Anhänger von schrumpfenden Wirtschaften. Dabei stützt sich der Philosoph auf die schon längere bekannte Tatsache, dass sich Marx, nachdem der erste Band des Kapital veröffentlicht worden war, wieder in die Bibliothek begab und dort auch zahlreiche zeitgenössische Schriften von Naturwissenschaftlern gelesen hat. Vor allem mit den Schriften des Chemikers Justus von Liebig beschäftigte sich Marx sehr viel, wie aus seinen schriftlichen Aufzeichnungen hervorgeht, die sich Marx von der Lektüre machte. Aus den Exzerpten zitiert Kohei Saito in dem Buch ausführlich. Damit wiederholt er eigentlich nur, was Foster schon ausführlich beschrieben hat. Weniger bekannt ist, dass der Biologe Karl Nikolas Fraas, ein Zeitgenosse von Marx, auch von diesem ausgiebig gelesen wird. Saito vertritt die These, dass sich der späte Marx durch diese Lektüre eine ökologische Perspektive verschaffte, die es ihm unmöglich gemacht hätte, die weiteren Bände des Kapital in der geplanten Form zu veröffentlichen. Über die Überlegungen, wie er seine neuen Erkenntnisse in sein Werk einbauen könnte, wäre er gestorben. Friedrich Engels habe aber diese ökologische Wende von Marx ignoriert, als er den zweiten und vor allem den dritten Band des Kapital zusammenstellte. Die Zusammenstellung für den zweiten und dritten Band erfolgte nach Marx’ Tod von Friedrich Engels. Besonders bei der Konzeption des 3. Bandes gibt es unter Marx-Kennern schon lange eine Diskussion, ob Engels da mehr seine eigenen Vorstellungen einbrachte als die von Marx. Der Streit darum begann schon Ende des 19 Jahrhunderts und wurde auch von den unterschiedlichen Flügeln der Arbeiterinnenbewegung befeuert. In dem im Dietz-Verlag von
Dieter Lehnert und Christina Morina herausgegebenen Buch Friedrich Engels und die deutsche Sozialdemokratie schrieb Jan Gerber: „Unter kritischen
Marxistinnen und Marxisten des 20. und 21. Jahrhunderts ist es beliebt geworden, Engels für sämtliche Fehlgriffe des Marxismus verantwortlich zu
machen“. Ist Engels etwa auch dafür verantwortlich, dass der ökologische
Marx bisher nicht weltweit bekannt wurde? Dafür findet man bei Saito zumindest keine stichhaltigen Belege, genauso wenig dafür, dass er ein früher
Verfechter von Degrowth-Theorien gewesen sei. Gleich mehrmals erwähnt
Saito, dass er der erste sei, der ihm dieses Etikett verpasste. Da wird man den
Eindruck nicht los, dass sich der Autor mit Marx im Hintergrund selber besonders in den Mittelpunkt stellt. Dem Buchverkauf ist das auf jeden Fall
förderlich. Was durchaus positiv zu bewerten ist, denn die Lektüre des Buches führt auch dazu, dass sich vor allem jüngere Klima-Aktivistinnen verstärkt mit Marx zu beschäftigten beginnen, die vorher wenig mit ihm anfangen konnten. Sie sollten auf jeden Fall nicht versäumen, auch die Texte von Marx zu lesen, die Kohai Saito verwirft oder kritisiert. Dann können sie selber nachvollziehen, ob Marx nun zum Degrowth-Kommunisten wurde, oder ob das nur eine unbegründete These ist. Es stimmt auf jeden Fall und ist auch schon länger bekannt, dass Marx sich im letzten Lebensabschnitt mit Fragen von Natur und Umwelt intensiv befasst hat. Dass er dann aber zu Antworten gekommen sein soll, die wie der Degrowth-Kommunismus erst in den letzten Jahrzehnten entwickelt wurden, muss doch bezweifelt werden. Hier geht der Autor wenig materialistisch davon aus, dass Modelle, die als Ausweg für eine hoch entwickelte Industriegesellschaft diskutiert werden, schon im Frühkapitalismus ihre Bedeutung gehabt haben sollen. Welche Wirtschaft aber sollte in einer Zeit geschrumpft werden, als der Kapitalismus noch in den Anfängen lag? Degrowth in der frühen Sowjetunion? Und welche Bedeutung hätten solche Konzepte des Degrowth-Kommunismus in der frühen Sowjetunion gehabt, wo eine Industrialisierung ja auch ein wichtiger Schritt aus der Verarmung war? Kohai Saito zitiert berechtigterweise den Brief von Marx an die russische Sozialrevolutionärin Vera Sassulitsch, in der er klarstellte, dass der russische Mir, eine Art Dorfgemeinschaft, am Weg zum Sozialismus eine wichtige Rolle spielen kann. Das bedeutet aber umgekehrt nicht, dass auf die gesamte Industrialisierung hätte verzichtet werden können. Eine rein agrarische Gesellschaft wäre auf jeden Fall aus der bloßen Subsistenz nicht herausgekommen. Erst in einer Gesellschaft, in der unmittelbare Grundbedürfnisse befriedigt sind, kann sinnvoll über einen DegrowthKommunismus diskutiert werden. Zudem entgeht Saito völlig, dass es in der frühen Sowjetunion auch durch massive Angriffe der mit dem kapitalistischen Ausland verbündeten Gegner der Revolution zu enormen Schrumpfungen der Wirtschaft im Vergleich zum Stand vor dem ersten Weltkrieg gekommen war. Es war aber eine Schrumpfung wider Willen, die zu massiven Verarmungen großer Teile der Bevölkerung führte. Das führte dazu, dass in der frühen Sowjetunion der Kriegskommunismus der ersten Jahre durch die Neue ökonomische Politik ersetzt wurde, wo wieder kapitalistische Elemente eingeführt wurden. Es wäre auf jeden Fall interessant zu erfahren, wie in diesen Kontext ein Degrowth-Kommunismus ausgesehen hätte. Ein großer Pluspunkt von Kohai Saito ist es, dass er seine Thesen in einer leicht verständlichen Sprache formuliert. Das Buch kann auch gut von Menschen gelesen und verstanden werden, die noch nie einen Marx-Text vor Augen hatten. 294 Kohei Saito begründet auch überzeugend, warum es keinen grünen Kapitalismus geben kann. „Gegen den Green New Deal, der auf ein grenzenloses Wirtschaftswachstum abzielt, kann man dagegen nur sagen: Der Weg zum Aussterben ist mit guten Vorsätzen gepflastert.“ (73). Auch Saitos Kritik am Akzelerationismus, die linke Technikbegeisterung, ist sehr gelungen. „Offen gesagt, ist der Akzelerationismus nichts weiter als eine Art Fremdkörper, der lauthals auf die Bühne gestürmt ist, ohne die Erkenntnisse des späten Marx zu kennen. Er ist das Ergebnis des über 150 Jahre andauernden Irrtums, dass der Produktivismus der Inbegriff des Marxismus sei.“ (153) Konkrete Vorschläge sehr allgemein Das Problem des Buches liegt darin, dass die konkreten Schritte beim Weg zum Kommunismus im letzten Teil sehr beliebig sind. Es wird nicht begründet, was die Forderungen nach Bürgerräten, wie in Frankreich praktiziert, oder die Ausrufung des Klimanotstands in Barcelona mit dem Kommunismus zu haben sollen. Das spricht natürlich überhaupt nicht gegen diese Forderungen. Man könnte sie als Übergangsforderungen verstehen, mit denen größere Bevölkerungsteile merken, dass der Kapitalismus keine Lösung ist. Doch was im Buch fehlt, ist eine kommunistische Strategie und Taktik, die verhindert, dass die Bürgerräte wie in Frankreich einfach ignoriert werden oder das im Buch hoch gelobte Modell Barcelona nach den Wahlen von konservativen Parteien wieder abgewickelt wird. Es ist eine merkwürdige Diskrepanz in dem Buch zwischen der im ersten Teil begründeten Option für den Degrowth-Kommunismus und den reformerischen Vorschlägen im Anschluss. Ein Schwachpunkt ist auch, dass die Lohnabhängigen in dem Buch nur eine untergeordnete Rolle haben. Sicherlich finden sich in den fünf Säulen zum Degrowth-Kommunismus sinnvolle Forderungen nach Verkürzung der Arbeitszeit und auch der Arbeiterinnenkontrolle im Betrieb. Doch über die Organisierung der Lohnabhängigen, um diese Forderungen umzusetzen, liest man nichts. Vielleicht liegt das auch daran, dass sich Saito mehrmals positiv auf den Ökosozialisten André Gorz bezieht, der in den 1970er Jahren mit dem Bestseller Abschied vom Proletariat bekannt und auch bei den
Grünen der ersten Jahre viel rezipiert wurde. Doch ein Degrowth-Kommunismus müsste gerade nicht Abschied vom Proletariat nehmen, sondern im Gegenteil eine transnationale Organisierung des Proletariats propagieren. Davon liest man bei Saito ebenso wenig wie darüber, wie man mit den militanten Verteidigerinnen des Kapitalismus im Allgemeinen und der fossilen Produktionsweise im Besonderen umgehen soll. So lässt das Buch immerhin die Chance, dass sich viele junge Menschen und Klima-Aktivistinnen mit Marx und den Kommunismus beschäftigten. Über den Weg dahin wird dann kollektiv in konkreten Kämpfen entschieden.
Peter Nowak