Ulrich Schneider: Krise – Das Versagen einer Republik. 176 Seiten, Westend-Verlag, 20 Euro

Kein einziges Mal fällt das Wort »Kapitalismus«

Ulrich Schneider diskutiert mit Heidi Reichinnek über sein neues Buch »Krise – Das Versagen einer Republik« Am Ende waren sich die Gesprächspartner*innen Schneider und Reichinnek aber einig: »Wir müssen weitermachen, es bleibt uns gar nichts anderes übrig.«

Über drei Jahrzehnte hat Ulrich Schneider gegen wirtschaftsliberale Politik angeschrieben. »Sozialpolitik gegen die Schwachen – Der Rückzug des Staates aus der Sozialpolitik« lautete der Titel eines Buches, das er 1993 veröffentlichte. 25 Jahre lang versuchte Schneider außerdem als Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlverbands, gegen diesen Rückzug anzukämpfen. Jetzt geht er in Rente und zieht als freier Autor und Sozialexperte eine …

… ernüchternde Bilanz.

»Krise – Das Versagen einer Republik« ist der Titel des aktuellen Bandes, den Schneider wie üblich im Westend-Verlag veröffentlicht hat. Darüber diskutierte er am Montagabend mit der Linke-Bundestagsabgeordneten Heidi Reichinnek in der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Die Moderation übernahm die Politikwissenschaftlerin und Journalistin Sabine Nuss, der Veranstaltung lauschte ein halb gefüllter Saal der Stiftung in Berlin, außerdem waren rund 75 weitere Interessierte online.

Schneider schien zu genießen, dass er im Ruhestand endlich ohne diplomatische Floskeln reden kann und Niederlagen nicht mehr in Erfolge umdefinieren muss. So kommt er in seinem Buch zu dem Schluss, dass es ihm und vielen anderen Mitstreiter*innen nicht gelungen sei, soziale Politik für die Mehrheit einkommensschwacher Menschen zu machen.

Dabei habe er etwa zu Beginn der Corona-Pandemie eine günstige Situation gesehen, als das Motto »Leave no one behind« in der Linken um sich griff. So sorgten sich damals tatsächlich viele Menschen, wo Wohnungs- und Obdachlose unterkommen sollten, als der Staat dazu aufforderte, zu Hause zu bleiben. Auch Lebensbedingungen von prekär Beschäftigten gerieten in den Fokus. Doch am Ende seien mit Corona-Hilfen jene belohnt worden, die ohnehin genug hatten, so Schneiders Fazit.

Um seinen Punkt zu machen, beschrieb Schneider das Scheitern der Proteste gegen Teuerung und Inflation im Herbst 2022, an deren Organisation er selbst beteiligt war. So hatte er zum Auftakt des »Solidarischen Herbstes«, der auch von vielen Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften ausgerufen worden war, in Berlin auf einer großen Bühne vor lediglich 5000 Menschen gesprochen. Ein »absoluter Tiefpunkt meines politischen Lebens«, so Schneider. Eine Analyse der Gründe für die mangelnde Beteiligung von Armutsbetroffenen unternahm Schneider nicht, äußerte aber sein fortwährendes Unverständnis, warum nach drei Jahren Krise nicht »ganz Deutschland auf der Straße« sei.

Eine neue Chance sah Schneider mit der derzeitigen Bundesregierung, hätten sich SPD und Grüne in der Sozialpolitik gegen die FDP durchsetzen können. Diese Illusion hatten allerdings schon viele Armutsbetroffene nicht, die 2004 gegen die von einer Regierung aus SPD und Grünen auf den Weg gebrachten Hartz-IV-Gesetze auf die Straße gegangen waren. Darauf machte ein Besucher aus dem Publikum aufmerksam.

Reichinnek erklärte mehrmals, dass sie sich Schneiders Ausführungen anschließen könne. An manchen Stellen verteidigte sie ihre Partei gegen Kritik. Schneider war bis 2022 ebenfalls Mitglied der Linkspartei und verließ diese nach einer Rede von Sahra Wagenknecht. Die Hauptkritik an seiner ehemaligen Partei lautete in der Diskussion aber, dass sie es in der Krise versäumt habe, sozialpolitische Forderungen in den Vordergrund zu stellen. Am Ende waren sich die Gesprächspartner*innen Schneider und Reichinnek aber einig: »Wir müssen weitermachen, es bleibt uns gar nichts anderes übrig.« Auffallend war, dass bei der Debatte kein einziges Mal das Wort Kapitalismus fiel – und das in den Räumen der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Peter Nowak

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