Über drei Jahrzehnte hat Ulrich Schneider gegen wirtschaftsliberale Politik angeschrieben. »Sozialpolitik gegen die Schwachen – Der Rückzug des Staates aus der Sozialpolitik« lautete der Titel eines Buches, das er 1993 veröffentlichte. 25 Jahre lang versuchte Schneider außerdem als Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlverbands, gegen diesen Rückzug anzukämpfen. Jetzt geht er in Rente und zieht als freier Autor und Sozialexperte eine …
„Kein einziges Mal fällt das Wort »Kapitalismus«“ weiterlesenSchlagwort: Paritätischer Wohlfahrtsverband
Armut bekämpfen, statt Arme auszuspielen
Ein Bündnis von sozialen Initiativen fordert offensive Sozialpolitik
Nach dem vorläufigen Aufnahmestopp von Menschen ohne deutschen Pass bei der Essener Tafel (Wenn die „deutsche Oma“ gegen Arme ohne deutschen Pass ausgespielt wird) gab es viel Kritik aber auch Verständnis für die Maßnahme. Selbst Merkel meinte, sich dazu äußern müssen, und auch der Faschismusvorwurf wurde erhoben.
Bevor Ermüdungserscheinungen eintreten, bekam die Diskussion jetzt noch mal eine erfreuliche neue Richtung. Ein Bündnis von sozialen Initiativen initiierte einen Aufruf für einen Wandel der Sozialpolitik.
Dass Menschen, egal welcher Herkunft, überhaupt Leistungen der Tafeln in Anspruch nehmen müssten, sei Ausdruck politischen und sozialstaatlichen Versagens in diesem reichen Land, heißt es in der Erklärung, die u.a. vom DGB, der Nationalen Armutskonferenz, dem Paritätischen Wohlfahrtsverband, dem Sozialverband VdK Deutschland, dem Verband alleinerziehender Mütter und Väter, dem Deutschen Kinderschutzbund, der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe und PRO ASYL unterzeichnet wurde.
„Sozialstaatliche Leistungen müssen dafür sorgen, dass für alle hier lebenden Menschen, gleich welcher Herkunft, das Existenzminimum sichergestellt ist. Es ist ein Skandal, dass die politisch Verantwortlichen das seit Jahren bestehende gravierende Armutsproblem verharmlosen und keine Maßnahmen zur Lösung einleiten. Damit drohen neue Verteilungskämpfe“, heißt es in dem Aufruf.
Damit werden die Verantwortlichen für die Misere genannt und dabei weder die unterschiedlichen Nutzer der Tafeln noch die Initiatoren der Tafeln verurteilt, sondern eine Politik, welche die Verarmung großer Teile der Bevölkerung in Kauf nimmt, was die „Vertafelung der Gesellschaft“ überhaupt nötig macht.
„Sozialpolitische Reformen der vergangenen Jahre hatten immer das Ziel, Mittel einzusparen“, erklärte Barbara Eschen, Sprecherin der Nationalen Armutskonferenz. Reichen seien Steuergeschenke gemacht worden, gleichzeitig habe man die Leistungen für Bedürftige zusammengekürzt. In der Folge sei die Konkurrenz der Menschen um die Mittel verschärft worden.
Heute beklagt die Politik, die den Sozialabbau herbeigeführt hat, die Entsolidarisierung der Gesellschaft.
Barbara Eschen
Die Verarmungspolitik hat einen Namen: Hartz-IV
Die Organisatoren machen auch deutlich, dass die politisch gewollte Verarmungspolitik einen langen Vorlauf hat, aber in dem Hartz IV-Programm kulminiert.
Um überleben zu können, waren immer mehr Menschen auf die Tafeln angewiesen. Da ist es besonders zynisch, dass der Alt-Sozialdemokrat und Lobbyist Claus Schmiedel in einem Interview in der Wochenzeitung Kontext erklärt.
Mit der Agenda und Gerhard Schröder haben wir 2005 noch einmal ein prächtiges Ergebnis bei der Bundestagswahl eingefahren.
Claus Schmiedel
So wie Schmiedel denken wahrscheinlich viele in der SPD, nur nicht alle werden es so offen aussprechen. Wenn eine Spätfolge der Essener Tafeldebatte dazu führt, diese Verarmungspolitik und die dafür Verantwortlichen in den Fokus zu nehmen, dann wäre das sehr positiv. Es gäbe viele Gründe weiterhin gegen die Vertafelung der Gesellschaft zu protestieren.
Im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit der Essener Tafel wurde immer wieder betont, man dürfe die Menschen, die ehrenamtlich helfen wollen, nicht kritisieren. Natürlich geht es nicht darum, ihren guten Willen infrage zu stellen. Was aber sehr wohl not tut, ist die Kritik an einem bürgerlichen Philanthropismus, der von den gesellschaftlichen Ursachen der Verarmung und Verelendung nicht reden will und die Betroffenen nur als Bittsteller ansieht, die für jeden Bissen dankbar sein soll.
Wie schon Karl Marx den bürgerlichen Philanthropismus scharf kritisierte, so ist das heute auch wichtig. Nur noch wenige Organisationen wie Medico International kritisieren einen solch paternalistischen Ansatz von Hilfe und propagieren dagegen eine Unterstützung, die Menschen zu Selbstbewusstsein und Widerstand ermutigt.
Warum nicht die Tafeln nutzen, um mit den Menschen gemeinsame „Zahltage“ in Jobcentern zu machen, um ihre Rechte einzufordern, damit sie genug Geld haben, um Produkte ihrer Wahl zu kaufen? So würden sich die Tafeln selber überflüssig machen und das müsste ihre vornehmste Aufgabe für alle Menschen sein, wenn die Arbeit bei der Tafel wirklich gesellschaftlich etwas bewirken und nicht nur Armut verwalten und regulieren will.
https://www.heise.de/tp/features/Armut-bekaempfen-statt-Armut-auszuspielen-3988098.html
Peter Nowak
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[1] https://www.heise.de/tp/features/Wenn-die-deutsche-Oma-gegen-Arme-ohne-deutschen-Pass-ausgespielt-wird-3977708.html
[2] http://www.der-paritaetische.de/presse/buendnis-fordert-offensive-sozialpolitik-
armut-jetzt-bekaempfen
[3] http://infothek.paritaet.org/pid/fachinfos.nsf/0/
9ef8993719d83ff7c1258248002ebedd/$FILE/180306_pk_erklaerung.pdf
[4] https://www.kontextwochenzeitung.de/politik/361/gottes-segen-haelt-4945.html
[5] http://www.aktionsbuendnis20.de/
[6] https://www.medico.de
[7] http://de.labournet.tv/video/5879/zahltag-jobcenter-neukolln
Boomender Wirtschaftsstandort Deutschland mit einer wachsenden Schicht von Armen
Alle Jahre wieder erscheint der neueste Armutsbericht und man geht zur Tagungsordnung über
„Je besser es dem Standort Deutschland geht, desto mehr wächst die Armut“, lautete die Überschrift eines Artikels [1] zur Warnung des Paritätischen Wohlfahrtsverbands [2] vor der wachsenden Verarmung großer Teile der Bevölkerung in Deutschland. Der Artikel stammt vom April 2014, ist aber ganz aktuell, wie der gestern veröffentlichte Armutsbericht 2016 [3] deutlich macht. In der Bundesrepublik setzt sich die Verarmung großer Teile der Bevölkerung fort, konstatiert er: „Ein Verharren der Armutsquote in Deutschland auf hohem Niveau“.
Für die Reichen der rote Teppich – für die Armen Hartz IV
In Zahlen ausgedrückt bedeutet das: Die Armutsquote bleibe mit 15,4 Prozent auf einer erhöhten Stufe. Sie sei zwar von 2013 auf 2014 um 0,1 Prozentpunkte gesunken. Ob der Negativtrend seit 2006, als die Armutsquote noch 14 Prozent betrug, damit gestoppt sei, bleibe jedoch offen. Während es insbesondere in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern signifikante Rückgänge der Armutsquoten gegeben habe, setze sich der Negativtrend in Nordrhein-Westfalen ungebrochen fort.
Das Ruhrgebiet bleibe mit Blick auf Bevölkerungsdichte und Trend die armutspolitische Problemregion Nummer Eins in Deutschland. Seit 2006 sei die Armutsquote im Ruhrgebiet um 27 Prozent angestiegen auf einen neuen Höchststand von 20 Prozent. Die am stärksten von Armut betroffenen Gruppen sind nach dem Bericht Erwerbslose (58 %). Auch die Kinderarmutsquote (19 %) liegt nach wie vor deutlich über dem Durchschnitt, wobei die Hälfte der armen Kinder in Haushalten Alleinerziehender lebt. Die Armutsquote Alleinerziehender liegt bei sogar 42 %, was u.a. an systematischen familien- und sozialpolitischen Unterlassungen liegt.
Alarmierend sei die Entwicklung insbesondere bei Rentnerhaushalten. Erstmalig seien sie mit 15,6 Prozent überdurchschnittlich von Armut betroffen.
Die Vorstellung des Armutsberichts ist mittlerweile ein jährliches Ritual geworden, wie es lange Zeit die Veröffentlichung der neuesten Arbeitsmarktdaten durch die Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg war. Immer am Monatsanfang konnten wir dort erfahren, wie hoch die Erwerbslosigkeit und die Kurzarbeit war und was sich im Vergleich zum Vormonat und Vorjahr geändert hat. Auch heute werden die Arbeitsmarktdaten noch am Monatsbeginn bekannt gegeben, haben aber an Interesse und Bedeutung stark verloren.
Das hat mehrere Gründe. Zum einen ist mittlerweile klar, dass die reale Erwerbslosigkeit in den Zahlen nicht ausgedrückt wird, weil eben viele Erwerbslose in Maßnahmen umgeleitet werden und so aus der Statistik fallen. Zum anderen macht es heute für viele Menschen keinen Unterschied mehr, ob sie als Erwerbslose oder als Teil- oder Vollzeitlohnabhängige arm sind. Die Zeiten, wo ein Arbeitsplatz zumindest das Versprechen war, ein Einkommen über dem Existenzminimum zu haben, sind vorbei.
Heute können viele Vollzeiterwerbslose ihre Reproduktionskosten nicht mehr durch ihren Lohn decken und müssen mit Hartz IV aufstocken. Wenn aber ein Job nicht mehr vor Armut schützt, verliert die Arbeitslosenstatistik gesellschaftlich an Bedeutung. Die Verarmung ist nun aber kein Naturgesetz, sondern eine von der Politik bewusst verursachte und gestaltete Politik. Die Etablierung eines Niedriglohnsektors und gleichzeitig die zunehmende Steuerbefreiung für die Oberklassen wurden in den letzten 2 Jahrzehnten von allen regierenden Parteien vorangetrieben.
Man achtete darauf, dass es der Wirtschaft gut geht. Das war ganz wörtlich zu verstehen. Wenn Konzernvertreter und ihnen nahestehende Publizisten von schlechten Bedingungen für die Wirtschaft redeten, verstand das eine ganz große Parteienkoalition als Aufrag, die Reichen noch mehr zu entlasten. Die wachsende Schar der Einkommensschwachen wurde mittels Hartz IV-Gesetze in ein System der Unterordnung gepresst. Die Waffe der Sanktionierung wurde immer besonders sichtbar geschwungen.
Die Folge ist ein boomender Wirtschaftsstandort Deutschland mit einer wachsenden Schicht von Armen. Es ist daher falsch, wenn jetzt in vielen Medien beklagt wird, dass es so viele arme Menschen in einem Land gibt, das wirtschaftlich so gut dasteht. Richtig wäre zu sagen, weil Deutschland wirtschaftlich so gut dasteht, gibt es den hohen Prozentsatz an Armen.
Die Reduzierung der Kosten der Ware Arbeitskraft war das Ziel bisher fast aller Politiker. So wurde Deutschland fit für den Weltmarkt gemacht, um mit anderen Ländern in Konkurrenz zu treten. Aber die erste Konkurrenz ist der Unterbietungswettbewerb im Bereich der Löhne, Einkommen und Arbeitsrechte, den sich die Länder der EU, angeführt von Deutschland, liefern.
Weg in die Rentnerarmut
Auch die wachsende Zahl der einkommensschwachen Senioren ist keine Überraschung, sondern wird seit Jahren anhand sehr solider Daten prognostiziert. Wenn Menschen über Jahre im Niedriglohnsektor gearbeitet haben, ist es klar, dass sie dann im Alter auch eine Niedrigrente zu bekommen. Das ist von der Politik durchaus so gewollt. Entsteht doch hier eine neue Schicht von billigen Teilzeitbeschäftigten, die oft unter Tarif einer Lohnarbeit nachgehen.
In der fordistischen Phase der BRD war die Formel „Die Renten sind sicher“ der Brosamen der vom Tisch der sozialen Marktwirtschaft fallen gelassen wurde. Norbert Blüm vom Arbeitnehmerflügel der CDU war der letzte Exponent dieser Phase. Vor allem Sozialdemokraten haben viel dazu beigetragen, dass der Satz heute lauten muss „Die Renten sind sicher zu wenig zum Leben“. Die sogenannte Riester-Rente, benannt nach dem ehemaligen Gewerkschafter und Sozialdemokraten Riester war der Prellbock mit dem unter rot-grün die solidarischen Versicherungssysteme demontiert [4] wurden.
Wo alles dem Kapitalgesetz unterworfen werden sollte, sollte auch die letzte solidarische Nische geschleift werden. Jahrelang galten Kritiker der Riesterrente fast schon als radikale Linke. Nun erklärt selbst der Arbeitnehmerflügel der CDU die Riesterrente für gescheitert [5] und fordert die Rückabwicklung [6].
Das Anwachsen rechtspopulistischer Strömungen und die Flaute bei den sozialen Bewegungen
Wenn solche Töne selbst aus der Union kommen, könnten sich die Reste der sozialen Bewegungen eigentlich andere Ziele setzen, um deutlich zu machen, dass Armut und eine boomende Wirtschaft zusammen gehören. Doch davon ist wenig zu sehen.
Der Paritätische Wohlfahrtsverband stellt wie bereits in den letzten Jahren Forderungen, wie den Bau von mehr Wohnungen und die Erhöhung der Steuern bei den Reichen. Doch selbst solche sozialpolitischen Forderungen sind heute nur noch durchzusetzen, wenn man Widerstand von unten organisiert. Die ewigen Appelle, die Politik solle doch etwas sozialer werden, bewirken nur, dass sich die Menschen schulterzuckend abwenden und sich, statt mit Nachbarn und Kollegen für die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse zu kämpfen, daran beteiligen, Menschen, denen es noch schlechter geht, zu Sündenböcken zu machen.
Das Anwachsen rechtspopulistischer Strömungen und die Flaute bei den sozialen Kämpfen bedingen einander. Tatsächlich gibt es in einigen Städten selbstorganisierte Mieterkämpfe und gelegentlich Arbeitskämpfe auch in Branchen, die als schwer oder gar nicht organisierbar galten. Doch eine gesamtgesellschaftliche soziale Bewegung, wie sie in den Jahren 2012 und 2013 sogar transnational mit den M31-Protesten [7] aufschien, ist nicht entstanden. Eine Bewegung gegen AFD, Pegida und Co. wird aber nur erfolgreich sein, wenn es gelingt, die sozialen Kämpfe wieder in den Focus zu rücken.
Es gib da hier und da Ansätze, wie am 1. Marz der Transnationale Migrantenstreik [8], wo Beschäftigte aus verschiedenen Ländern beginnen, um ihre Rechte zu kämpfen. Auch die Initiative Sanktionsfrei [9], die Erwerbslose unterstützt, die sich gegen Sanktionen wehren wollen, sind solche kleinen Ansätze eines sozialen Widerstands [10]. Bereits im letzten Jahr gab es einen Versuch bei der Freien Arbeiterunion einen solchen Solidaritätsfond für Sanktionierte einzurichten.
Nun sollten diese Ansätze wieder aufgegriffen werden. Solange die aber noch so vereinzelt sind, dürfte es auch in den nächsten Jahren immer für ein oder zwei Tage Diskussionen über die wachsende Armut in Deutschland geben und die restliche Zeit wird die Politik gemacht, die genau diese Entwicklung befördert.
http://www.heise.de/tp/news/Boomender-Wirtschaftsstandort-Deutschland-mit-einer-wachsenden-Schicht-von-Armen-3116261.html
Peter Nowak ]
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Je besser es dem Standort Deutschland geht, desto mehr wächst die Armut
Ein Gutachten fasst noch einmal prägnant zusammen, was niemand mehr ignorieren kann. In der Ursachenforschung bleibt das Gutachten aber vage
In diesen Tagen haben verschiedene Meldungen verdeutlicht, wie falsch die weit verbreitete Vorstellung ist, dass es den Menschen besser geht, wenn es der Wirtschaft gut geht. Immer wieder wird gemeldet, dass der Wirtschaftsaufschwung in Deutschland anhält und die Steuereinnahmen wachsen. Der Wirtschaftsstandort Deutschland steht also sehr gut da.
Ein am 24. April vorgestelltes Gutachten [1] des Paritätischen Wohlfahrtsverbands [2] zeigt auf, wer den Preis dafür zu zahlen hat. Noch nie war die soziale Ungleichheit in Deutschland so groß wie heute, lautet ein Fazit des Gutachtens.
Auch bei den Erfolgsmeldungen über den Rückgang der Erwerbslosenzahlen in Deutschland benennt das Gutachten diejenigen, die den Preis dafür zahlen müssen. Auf dem deutschen Arbeitsmarkt gibt es nach Einschätzung des Verbands immer weniger klassische sozialversicherungspflichtige Vollzeit-Jobs: Es habe noch nie so viele Erwerbstätige wie heute gegeben, aber auch noch nie mehr Minijobs.
Aber nicht Arbeit um jeden Preis stärke den sozialen Zusammenhalt, vielmehr könne dieser nur wachsen, wenn „gute Arbeit“ zunehme. Der Vorsitzende des Paritätischen Gesamtverbandes Rolf Rosenbrock wurde bei der Beschreibung der sozialen Situation [3] auf der Pressekonferenz sehr deutlich .
Gegengewicht zu den Wirtschaftsweisen
Zunächst positionierte er das Gutachten als Gegengewicht zu den regelmäßigen Statements der sogenannten Wirtschaftsweisen [4]. Schon der Name ist Ideologie. Es handelt sich dabei um mehrheitlich wirtschaftliberale Ökonomen, die ihre Meinung mit solchen Begrifflichkeiten in die Sphäre des gesunden Menschenverstandes verlegen und so einer politischen Diskussion ihrer Ansichten entgehen wollen. Allerdings geht Rosenbrock auf diese Ideologie nicht ein, sondern will lediglich sein Gutachten als soziales Pendant daneben stellen.
Rosenbrock stellt nicht den Zusammenhang her zwischen den meist schnell von der Politik umgesetzten Empfehlungen der sogenannten Wirtschaftsweisen und der in dem Gutachten diagnostizierten wachsenden Ungleichheit.
Ist der fehlende soziale Zusammenhalt das Problem?
Dazu kommt auch das ständige Insistieren auf den sozialen Zusammenhalt, der durch die wachsende Ungleichheit in Gefahr gerate.
„Wie steht es um den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft? Und: Was tut Politik, was tun Bundesregierung und Gesetzgeber konkret, um den sozialen Zusammenhalt in Deutschland zu stärken? Welche Auswirkungen haben politisches Handeln einerseits und politische Unterlassungen andererseits auf den sozialen Zusammenhalt“, fragt Rosenbrock.
Aber sind nicht die in dem Gutachten noch einmal prägnant auf den Punkt gebrachten sozialen Zustände in Deutschland das eigentliche Problem? Also dass vielen Menschen Möglichkeiten verbaut werden, weil sie in Niedriglohn-Jobs gezwungen werden, weil sie sich verschulden müssen, weil Strom und Gas abgestellt werden oder weil sie ihre Wohnung verlassen müssen?
Mit dem Insistieren auf den bedrohten sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft statt auf die verhinderten Lebensmöglichkeiten der Individuen wird auch ein bestimmtes Bild einer Gesellschaft erzeugt, die möglichst widerspruchsfrei funktionieren soll. Unterschiedliche Interessen existieren dann scheinbar nicht.
Die Frage, ob es nicht eines viel größeren gesellschaftlichen Zerwürfnisses bedarf, das man altmodisch Klassenkampf nannte, damit sich die in dem Gutachten monierten gesellschaftlichen Zustände verändern, stellt Rosenbrock nicht.
Auch die Beurteilung der Politik bleibt in dem Gutachten zwiespältig. Zwar werden die verschiedenen gesetzgeberischen Maßnahmen, die zur wachsenden Ungleichheit in der Gesellschaft beigetragen haben, richtig aufgezeigt.
Ist die Politik passiv in der Sozialpolitik?
Umso unverständlicher ist, dass Rosenbrock dann zu folgender Auffassung kommt:
Dabei zeigten doch die aufgeführten Beispiele, dass die Politik sämtlicher Bundesregierungen in den letzten Jahren keineswegs passiv war. Von der Agenda 2010 bis zum Pflege-Bahr ging es immer darum, den Preis der Ware Arbeitskraft zu verbilligen, um den Standort Deutschland zu stärken. Die soziale Ungleichheit war dabei weder ein Kollateralschaden noch ein unbeabsichtigter Effekt. Sie war von Anfang an intendiert. Denn sie sorgt dafür, dass Menschen ihre Arbeitskraft zu fast jeden Preis zu verkaufen bereit sind.
Weil diese Zusammenhänge in dem Gutachten nicht einmal in Ansätzen erkannt werden, bleiben auch die sieben Empfehlungen an die Politik hilflos. Weil schon in der Überschrift abermals deutlich wird, dass es nicht um die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen, sondern um die Stärkung des sozialen Zusammenhangs gehen soll, sind Initiativen der von hohen Mieten, Agenda 2010 und Niedriglöhnen Betroffenen beim Paritätischen Wohlfahrtsverband nicht vorgesehen.
Allerdings können die politischen Initiativen, die sich hier und da in Bewegung gesetzt haben, seien es die „Mietrebellen“ [5], die „ungehorsamen Erwerbslosen“ [6] oder die „streikenden Beschäftigten“ [7] durchaus von dem im Gutachten dokumentierten empirischen Material profitieren. Schließlich wird dort noch einmal gut zusammengefasst, was sie tagtäglich erfahren. Über die Frage, was die Ursachen für die Ungleichheit sind und wie die Situation verändert werden kann, dürfte es aber gravierende Differenzen geben.
http://www.heise.de/tp/news/Je-besser-es-dem-Standort-Deutschland-geht-desto-mehr-waechst-die-Armut-2176638.html
Peter Nowak 24.04.2014
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