Gerald Grüneklee: Nur Lumpen werden überleben. Die Ukraine, der Krieg und die antimilitaristische Perspektive. Mandelbaum-Verlag, 2024. 166 Seiten. ca. SFr. 15.00. ISBN: 978-3-99136-509-9.

Eine Streitschrift gegen das mo(r)dernisierte Deutschland

„Der Krieg muss nach Russland getragen werden. Russische Militäreinrichtungen und Hauptquartiere müssen zerstört werden. Wir müssen alles tun, dass die Ukraine in die Lage versetzt wird, nicht nur Ölraffinerien in Russland zu zerstören, sondern Ministerien, Kommandoposten, Gefechtsstände.“

Ein solches Statement hätte man vor einigen Jahren in Deutschland höchstens irgendwelchen Rechtsaussen-Figuren zugetraut, die noch immer nicht die deutsche Niederlage von Stalingrad überwunden haben. Doch es stammt aktuell vom gut vernetzten CDU-Politiker Roderich Kiesewetter. 80 Jahre nach der Niederlage von Stalingrad gehört es wieder zur deutschen Regierungspolitik, den Krieg …

… nach Russland zu tragen. Auch Aussenministerin Baerbock sagt schon mal, dass „wir“ uns im Krieg mit Russland befinden und „wir“ Russland ruinieren müssen. Kein Wunder, hat Baerbock doch öfter erklärt, dass sie mit ihrer Politik auf den Schultern ihrer Grosseltern steht.

Mit eingeschlossen ist da ihr Grossvater Waldemar Baerbock, der ein bedingungsloser Nationalsozialist gewesen ist. In Deutschland fragen sich die meisten Medien nach Bekanntwerden der Akte von Baerbocks Opa nur, ob das der Propaganda von Putin nutzt. Dass sind nur einige wenige Schlaglichter, die deutlich machen, wie schnell sich in Deutschland Militarismus und Revanchismus wieder breit machen. Der russische Angriff auf die Ukraine hat diese Entwicklung beschleunigt, aber nicht ausgelöst.

Nie wieder Russland statt nie wieder Deutschland

Sie fing 1989 mit dem Fall der Mauer an. Damals ist eine deutschlandkritische Linke entstanden, die zumindest bis in die 1990er Jahre den linken Diskurs mitprägte. Heute sind viele ihrer Protagonist*innen selber Teil der mo(r)dernisierten Deutschland. Sie tragen heute statt „Nie wieder Deutschland” die Parole „Nie wieder Russland“ auf ihren Schildern. Aber es gibt noch Stimmen, die die ursprünglichen Motive, der „Nie wider Deutschland”-Kampagne nicht vergessen haben. Dazu gehört der anarchistische Publizist Gerald Grüneklee.

Er hat im Mandelbaum-Verlag eine gut lesbare Streitschrift gegen die deutschen Verhältnisse des Jahres 2024 unter dem Titel „Nur die Lumpen werden überleben“ herausgegeben. Damit bezieht er sich auf das Gerede vom Lumpenpazifismus, mit dem Linksliberale wie Sascha Lobo Menschen und Gruppen, die nicht kriegsbereit waren und sind, diffamierten. Grüneklee zeichnet in seinen Buch nach, dass es eine lange reaktionäre Tradition gibt, missliebige Menschen als Lumpen ausgrenzen zu wollen.

„Lumpen, das waren Menschen, die pauschal von der Obrigkeit verdächtigt werden, kriminell zu sein und sich gemeinschaftsschädlich zu verhalten…. Lumpen, das waren Menschen, die ein öffentliches Ärgernis darstellten, weil man ihnen ihre Armut ansah…“. Man kann auch den von Marx geprägten Begriff des Lumpenproletariats in diese Linie der Diskrimierung einreihen. Statt dessen übernimmt der Autor den Begriff als einen Ehrentitel. „Die Begriffsherkunft des „Lumpen“ verweist aber auch auf Menschen, die ihren eigenen Kodex hatten, ihre Überlebensstrategien – und die über beachtliche Widerstandskräfte verfügten, die sie jahrhundertelang recht resilient gegenüber staatlichen Zugriffen und Zwangsdiensten machten.“

Und Grüneklee macht auch klar, was das heute bedeutet: „In diesem erweiterten Sinne verstehe ich den Lumpen-Begriff, beinhaltend die von der Gesellschaft Ver- und Ausgestossenen, die An-den-Rand-Gedrängten, die Überflüssigen und jene, die sich aus unterschiedlichen Gründen dem Zugriff von Staat und Herrschaft so gut wie möglich zu entziehen versuchten“.

Es ist zu hoffen, dass es auch in Deutschland 2024 noch eine Menge solcher Menschen gibt, mit denen kein Staat zu machen und kein Krieg zu führen ist. Sie könnten in Grüneklees Streitschrift weiter gute Argumente bekommen. In kurzen Kapiteln wirft er Schlaglichter auf den aktuellen deutschen Nationalismus, in dem Begriffe wie Wehrhaftigkeit und Kriegstüchtigkeit wieder zum Alltag gehören. Grün benennt die Profiteure des Krieges, wie den Rheinmetall-Konzern, deren Aktien seit 2 Jahren im Dauerhoch stehen.

Der Autor wirft auch ein Schlaglicht auf die Situation in der Ukraine als Labor des Neoliberalismus und auf die rechte Traditionspflege in dem Land. Es ist gut, dass Grüneklee in einem eigenen Kapitel auch auf die Rechten in Russland eingeht. Denn natürlich hat der anarchistische Autor keinerlei Sympathie mit dem autoritären Putin-Regime. Trotzdem werden die Verteidiger*innen des neuen deutschen Nationalismus nichts unversucht lassen, um alle Kritiker*innen als Putins Trolle zu diffamieren. Schliesslich ist da schon ein Bestandteil des neuen deutschen Nationalismus und Militarismus in alter Tradition.

Peter Nowak