Kohei Saito: Systemsturz Der Sieg der Natur über den Kapitalismus Aus dem Japanischen von Gregor Wakounig DTV, München 2023 320 Seiten, 25 Euro ISBN 978-3-423-28369-4

Bürgerräte reichen nicht

War Karl Marx ein verhinderter Ökologe? Ja, sagt Kohei Saito, aber so einfach ist es nicht

In Japan verkaufte sich ein Buch, das einen ökologischen Kommunismus als Zukunftsprojekt propagiert, über eine halbe Million Mal. Auch in den europäischen Städten sind die Versammlungsräume überfüllt, wenn der japanische Philosophieprofessor Kohei Saito seinen …

… in in viele Sprachen übersetzten Bestseller vorstellt: „Systemsturz: Der Sieg der Natur über den Kapitalismus“. Als der auch zeitweise an der Berliner Humboldt-Universität lehrende Saito Anfang September das Buch in Berlin vorstellte, waren die Plätze schnell ausgebucht. Tausende verfolgten die Ausführungen des Autors digital. Darunter viele aus der Klimabewegung, die bisher Karl Marx und seine Theorien vielleicht eher mit einem umweltschädlichen Produktivismus als mit ökologischen Perspektiven in Verbindung gebracht haben.

Ökonomie und Naturwissenschaften

Ganz falsch, sagt Kohei Saito. In Wirklichkeit sei Marx ein Degrowth-Kommunist. Dem vor 140 Jahren verstorbenen Theoretiker sei es nicht um fortgesetztes Wachstum gegangen, sondern um das Gegenteil davon. Dabei stützt sich Saito auf die schon längere bekannte Tatsache, dass Marx, nachdem der erste Band seines Hauptwerks „Das Kapital“ veröffentlicht war, sich wieder in die Bibliothek begab und dort auch zahlreiche zeitgenössische Schriften von Naturwissenschaftlern gelesen hat. Vor allem mit den Schriften des Chemikers Justus von Liebig beschäftigte sich Marx sehr viel, wie aus den schriftlichen Aufzeichnungen hervorgeht, die er sich bei der Lektüre machte. Aus diesen Exzerpten zitiert Kohei Saito in dem Buch ausführlich.

Weniger bekannt ist, dass auch der Biologe Carl Nikolaus Fraas, ein Zeitgenosse von Marx, von diesem ausgiebig gelesen wurde. Saito vertritt die These, dass sich der späte Marx durch diese Lektüre eine ökologische Perspektive verschaffte, die es ihm unmöglich gemacht habe, die weiteren „Kapital“-Bände in der geplanten Form zu veröffentlichen. Doch bevor er die neuen Erkenntnisse in sein Werk einbauen konnte, sei er gestorben. Friedrich Engels habe die ökologische Wende seines Freundes und Mitstreiters Marx ignoriert, als er dann den zweiten und vor allem den dritten Band des „Kapitals“ zusammenstellte. Deshalb sei Marx heute als Freund der größtmöglichen Entwicklung der Produktivkräfte bekannt und nicht als Degrowth-Kommunist, als den ihn Saito uns nun vorstellt.

Mehrmals erwähnt Saito, dass er der erste sei, der Marx dieses Etikett verpasst habe. Hier wird man den Eindruck nicht los, dass sich der Autor – mit Marx im Hintergrund – besonders in den Mittelpunkt stellt. Dem Buchverkauf ist das auf jeden Fall förderlich. Was aber auch positiv gesehen werden kann, denn die Lektüre führt auch dazu, dass sich vor allem jüngere KlimaaktivistInnen gründlicher mit Marx beschäftigten, die vorher wenig mit ihm anfangen konnten. Sie sollten auf jeden Fall nicht versäumen, auch die Texte von Marx zu lesen, die Kohei Saito kritisiert oder verwirft. Dann können sie selbst nachvollziehen, ob Marx nun zum Wachstumskritiker wurde oder ob das nur eine steile, unbegründete These ist.

Industrialisierung ist Voraussetzung

Richtig und auch schon länger bekannt ist auf jeden Fall, dass Marx sich im letzten Lebensabschnitt mit Fragen von Natur und Umwelt intensiv befasst hat. Dass er aber bereits zu Antworten gekommen sein soll, die – wie der Degrowth-Kommunismus – erst in den letzten Jahrzehnten entwickelt wurden, muss doch bezweifelt werden. Hier geht der Autor – wenig wissenschaftlich – davon aus, dass Modelle, die als Ausweg für eine hoch entwickelte Industriegesellschaft diskutiert werden, schon im Frühkapitalismus ihre Bedeutung gehabt haben sollen. Welche Wirtschaft sollte aber in einer Zeit geschrumpft werden, als der Kapitalismus noch in den Anfängen stand? Und welche Bedeutung hätten solche Degrowth-Konzepte in der frühen Sowjetunion haben können, wo die Industrialisierung auch ein wichtiger Schritt aus der Verarmung war?

Kohei Saito zitiert berechtigterweise den Brief von Marx an die russische Sozialrevolutionärin Wera Sassulitsch, in der er klarstellte, dass die russische Mir, eine Art Dorfgemeinschaft, auf dem Weg zum Sozialismus eine wichtige Rolle spielen könnte. Das bedeutet aber nicht, dass auf die gesamte Industrialisierung hätte verzichtet werden können. Eine rein agrarische Gesellschaft wäre aus einer bloßen Subsistenzwirtschaft wohl nicht herausgekommen. Erst in einer Gesellschaft, in der die unmittelbaren Grundbedürfnisse befriedigt sind, kann sinnvoll über einen Degrowth-Weg diskutiert werden. 

Gute Analyse, viele Ideen, keine Strategie

Ein großer Pluspunkt von Kohei Saito ist, dass er seine Thesen, anders als Karl Marx, in einer leicht verständlichen Sprache erläutert. Das Buch kann auch gut von Menschen gelesen werden, die noch nie einen Marx-Text durchgearbeitet haben.

Saito begründet auch sehr gut, warum es keinen grünen Kapitalismus geben kann. Seine Kritik am sogenannten Akzelerationismus, der linken Technikbegeisterung, ist ebenfalls sehr gelungen.

Das Problem des Buches liegt darin, dass die konkreten Schritte beim Weg aus dem Kapitalismus, wie sie im letzten Teil beschrieben werden, sehr beliebig wirken. Saito begründet nicht, was seine Forderungen nach Bürgerräten, wie in Irland oder Frankreich praktiziert, oder die Ausrufung des Klimanotstands in Barcelona mit der von ihm angestrebten Gesellschaft zu tun haben sollen. Das spricht natürlich überhaupt nicht gegen diese Forderungen. Sie könnten Übergangsforderungen sein, durch die größere Bevölkerungsteile merken, dass der Kapitalismus keine Lösung ist, auch kein grüner und „regulierter“ Kapitalismus. Doch was im Buch fehlt, ist eine Strategie und Taktik, um zu verhindern, dass die Bürgerräte, wie in Frankreich geschehen, einfach ignoriert werden oder dass das im Buch hoch gelobte Modell Barcelona nach dem nächsten Wahlerfolg konservativer Parteien wieder abgewickelt wird. Es gibt eine merkwürdige Diskrepanz zwischen der im vorderen Teil des Buches begründeten Möglichkeit für eine ganz andere Gesellschaft und den reformerischen Vorschlägen im hinteren Teil.

Breite Organisierung nicht vorgesehen

Ein Schwachpunkt ist auch, dass die Lohnabhängigen im Buch nur eine untergeordnete Rolle spielen. Zwar finden sich in Saitos „fünf Säulen des Degrowth-Kommunismus“ sinnvolle Forderungen nach Verkürzung der Arbeitszeit, demokratischer Kontrolle des Produktionsprozesses im Betrieb und einer Gebrauchswertwirtschaft, die sich an den Grundbedürfnissen der Menschen orientiert. Doch wie sich die Lohnabhängigen organisieren können, um diese Forderungen durchzusetzen, die ja mit Sicherheit auf starke Gegenwehr stoßen werden, liest man nirgends.

Vielleicht liegt das auch daran, dass sich Saito mehrmals positiv auf den Ökosozialisten André Gorz bezieht, der in den 1970er Jahren mit dem Bestseller „Abschied vom Proletariat“ bekannt wurde und auch bei den frühen Grünen viel Beachtung fand. Doch ein Degrowth-Kommunismus müsste gerade nicht Abschied vom Proletariat nehmen, sondern im Gegenteil eine transnationale Organisierung der ArbeiterInnen propagieren. Davon liest man bei Saito ebenso wenig wie darüber, wie man mit den militanten Verteidigern des Kapitalismus im Allgemeinen und der fossilen Produktionsweise im Besonderen umgehen soll.

Dennoch bietet das Buch die Chance, dass sich viele junge Menschen gerade aus der Klimabewegung mit Marx und seinen Ideen beschäftigten. Wie der Weg in die Zukunft aussieht, wird dann von ihnen in den konkreten Kämpfen zu entscheiden sein.

Peter Nowak