Dabei gibt es auch hierzulande Linke, die sich langjährigen Haftstrafen durch Flucht ins Ausland entzogen haben. So wie Ricardo, der seit Ende der 1990er Jahre in der ausserparlamentarischen Linken und der Graffiti-Szene in Dresden aktiv war. Ab 2006 produzierte er monatlich eine Livesendung beim Freien Radio Coloradio in Dresden. Im Jahr 2007 war er an der Organisierung der Proteste gegen den G8-Gipfel in Rostock beteiligt. Grossen Wert legte er auf die …
… Vernetzungsarbeit mit linken Projekten in kleineren Städten in Südbrandenburg. So war er am Aufbau eines Infoladens und Spätshop in Finsterwalde beteiligt. Bei seinen vielfältigen linken Aktivitäten war es nicht verwunderlich, dass Ricardo nicht nur mit Nazis, sondern auch mit dem repressiven Staatsapparat in Konflikt geriet. Als ihm eine längere Haftstrafe drohte entschloss er sich 2014 ins Exil nach Mosambik zu gehen. Zu dieser Entscheidung hat auch beigetragen, dass er bereits 2005 eine mehrmonatige Haftstrafe wegen verschiedener politischer Delikte in einem Jugendgefängnis im sächsischen Zeithain absitzen musste. „Gerade in Zeithain war er als Schwarzer politischer Mensch mit rassistischer Gewalt konfrontiert. In regelmässigen Abständen kam es zu körperlichen Auseinandersetzungen. Dabei erfuhr er nur von einem Mithäftling Solidarität“, schreiben seine Freund*innen über diese Zeit. Doch Ricardos Hoffnung von einem Neuanfang in Mosambik wurden bitter enttäuscht. Nach drei Jahren war er tot, ob es Selbstmord war ist ungeklärt.
»Am 4. Dezember 2017 erreichte uns die schlimme Nachricht, dass unser Freund Ricardo in seinem selbstgewählten Exil am Tag zuvor zu Tode gekommen ist«, schreibt gata preta. Unter diesem Namen haben Freund*innen und Genoss*innen Ricardos ein Buch herausgegeben, in dem sie an ihren toten Genossen erinnern und eine Auseinandersetzung mit Flucht, Exil und Illegalität führen. Zu Beginn werden die Schwierigkeiten bei der Gedenk- und Recherchearbeit beschrieben. Zunächst mussten die finanzielle Mittel für eine Reise nach Mosambik aufgebracht werden, so dass im Februar 2019 eine kleine Gruppe in das Land fliegen konnte, in dem ihr Freund und Genosse so hoffnungsvoll ein neues Leben beginnen wollte und so schnell den Tod fand.
Zwischen Hoffnung und Verzweiflung
Besonders beeindruckend sind die auf rund 35 Seiten dokumentierten Mails, die Ricardo in unregelmässigen Abständen aus dem Exil an seine Genoss*innen schrieb. Aus ihnen lässt sich seine Stimmung ablesen, die zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwankt. So beschreibt Ricardo, wie er sich als Bauzeichner selbstständig machen will und welche Probleme er dabei im Exilland hat. Auch die politischen Auseinandersetzungen lassen ihn nicht los, oft bezieht er sich auf Berichte linker Medien über Aktionen in Sachsen und bedauert, nicht dabei gewesen zu sein. Später will er sich auch in seinem Exilland politisch engagieren und überlegt, der Regierungspartei Freilimo beizutreten, die einst eine revolutionäre Vergangenheit im Kampf gegen den Kolonialismus hatte, aber längst als bürokratische und korrupte Machtpartei gilt.
Natürlich widerstrebt es dem anarchistisch orientierten Ricardo eigentlich, in eine Partei einzutreten. Seine Briefe zeigen aber, dass er im Exilland einige seiner Positionen aus Deutschland modifizieren musste. So stellt er das Prinzip der bedingungslosen Selbstorganisation in Frage, wenn er beschreibt, wie Dorfmilizen auf dem Land tatsächliche oder vermeintliche Diebe selbst liquidierten. Ricardo machte sich keine Freund*innen, als er dieser Selbstjustiz widersprach. Immer wieder zeigt er sich in seinen Mails verwundert, dass der Kampf um einen sicheren Arbeitsplatz für ihn einmal wichtig werden könnte. “Manchmal denke ich mir zwar, dass ich einfach ein bisschen rumcrimen könnte … aber zocken ist hier echt keine gute Idee“ schreibt Ricardo einige Monate nach seiner Ankunft im Exil.
Das Buch lässt viele Fragen über Ricardos Leben und Sterben in Mosambik offen, was aber positiv zu werten ist. Das Autor*innenkollektiv will nicht den Eindruck erwecken, alle Fragen beantworten zu können. Eine Frage ist, warum es im Buch kein einziges Foto von Ricardo gibt, obwohl es sich doch um ein Erinnerungsbuch an ihn handelt. Eine weitere Frage ist, warum das Autor*innenkollektiv nicht erwähnt, dass Ricardo sein Exilland Mosambik nicht zufällig gewählt hat. Es ist das Land seiner Eltern, die im Rahmen eines Abkommens zwischen der DDR und der Frelimo nach Ostdeutschland kamen. In wenigen Sätzen erfahren die Leser*innen, dass diese Verwandten Ricardo auch bei seinem Weg ins Exil unterstützten. Hier wäre zumindest eine Erklärung angebracht gewesen, warum dieses Thema ausgespart wird.
Gegen Romantisierung von Flucht
Im letzten Teil des Buches finden sich Interviews mit der ehemaligen RAF-Gefangenen Margit Schiller, die über ihre Probleme in den Exilländern Kuba und Nicaragua berichtet. Bei ihr wird auch deutlich, welche psychischen Folgen die Exilsituation hat. Schiller hatte keine Unterstützung bei ihrem Exil in Kuba und musste noch im Flugzeug fremde Menschen fragen, wo man in Kuba Exil beantragen kann. Dabei schien sie sich auch selber eher abzuschotten.
So berichtete sie, dass sie mit einer alten kubanischen Kommunistin nichts zu tun haben wollten, weil die für die Staatssicherheit gearbeitet hat, ihre Tätigkeit heute aber kritisch sieht. Als dann Bekannte von Schiller aus Deutschland zu Besuch kamen, freundeten sie sich mit der alten Frau an, was ihnen Schiller allerdings übel nahm. Auch mit einer Freundin, die Schiller den Erstkontakt nach Uruguay vermittelte, hat sich die Frau mittlerweile zerstritten. Hier wird auch ersichtlich, wie solche Fluchterfahrungen Menschen psychisch belasten.
Auch mit Bernd und Thomas, zwei Mitgliedern der autonomen Gruppe K.O.M.I.T.E.E., die 1995 bei der Vorbereitung eines Anschlags auf ein im Bau befindliches Abschiebegefängnis von der Polizei entdeckt wurden und bis nach Venezuela fliehen konnten, gibt es in dem Buch ein Interview. Bernd, einer der Interviewpartner, ist mittlerweile verstorben. Die zwei hatten in mehreren Interviews unter Anderem in dem Film „Gegen den Strom, abgetaucht in Venezuela“ betont, dass sie bei dem Weg ins Exil viel Solidarität erfahren haben. Das macht eben deutlich, wie unterschiedlich die Erfahrungen einer politisch motivierten Flucht sind. Das kommt sicherlich auch auf das solidarische Umfeld an, dass bei vielen der im Buch zu Wort kommenden Genoss*innen fehlte.
Das kurze Interview mit einem anonymen ETA-Mitglied, das den Band abschliesst, ist im Gegensatz zu den anderen Gesprächen etwas hölzern geraten. Insgesamt ist »Ich vermisse euch wie Sau« ein wichtiges und bedrückendes Buch, gerade wegen der vielen Fragen, die die Lektüre aufwirft. Das Buch entmystifiziert Exil und Illegalität, indem die Schwierigkeiten und Probleme angesprochen, die damit verbunden ist. Wer da ein romantisches Bild von der Illegalität hat, wird bei der Lektüre zumindest irritiert und das ist sehr positiv.
Peter Nowak