Ewgenly Kasakow Spezialoperation und Frieden Die russische Linke gegen den Krieg Unrast-Verlag, 2022, 244 Seiten, 16 Euro,

Wer wird die Kinder begraben?

Ewgenly Kasakow stellt die russische Antikriegslinken vor, Wenige Stunden nach der Invasion hatte die libertäre Gruppe "Food not Bombs in einen Aufruf gefragt: “ Wer wird die Eingeweide mit den Händlern einsammeln, wem werden Arme und Beine durch Explosionen abgerissen, wessen Familien werden ihre Kinder begraben? Selbstverständlich betrifft dies alles nicht die herrschende Minderheit“. Diese bewegenden Fragen stehen im Aufruf, den die libertäre Moskauer Gruppe „Food not Bombs“ wenige Stunden nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine verfasst hat. Ein Jahr später haben diese Fragen noch an Eindringlichkeit gewonnen.

Ein Jahr nach dem Einmarsch der russischen Armee in der Ukraine ist aus dem Konflikt ein Stellvertreterkrieg zwischen der Nato und Russland mit weiteren Eskalationspotential geworden. Auf beiden Seiten ist die Zahl der Opfer immens, nur die Toten auf der russischen Seite werden hierzulande kaum beachtet, wie auch die russische Antikriegsbewegung kaum bekannt ist. So wird der Eindruck erweckt, es gäbe jenseits von Navalny keine Opposition in Russland. Da ist es umso erfreulicher, dass der in Bremen lebende Historiker Ewgenly Kasakow im Unrast-Verlag ein Buch veröffentlicht hat, das sehr akribisch die unterschiedlichen Fraktionen der russischen Linke untersucht, die den Krieg gegen die Ukraine ablehnen.  Kasakow stellt die verschiedenen politischen Fraktionen der kriegsgegnerischen russischen Linken vor und gibt auch einen kurzen Überblick über deren …

… Zerklüftungen und Spaltungen. Im ersten Kapitel widmet sich Kasakow der Sozialdemokratie, Linkssozialismus und Gewerkschaften. Das zweite Kapitel ist den Kriegsgegner*innen der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation. . Nach weiteren Kapiteln, in denen sich Kasakow dem Phänomen des „Linksstalinismus“ und dem Trotzkismus widmet, kommt er zu dem Anarchismus/Anarchosyndikalismus /Autonome überschriebenen Kapitel. Zunächst gibt Kasakow einen kurzen Einblick in die Geschichte der antiautoritären Bewegung nach dem Ende der Sowjetunion. Ein weiteres Kapitel widmet sich den feministischen Widerstand gegen den Krieg, die aber mit Abstrichen als Linke bezeichnet werden können. Schließlich betont die von Kasakow interviewte Soziologin Masrija Wjatschinko, dass sie sich keineswegs als Linke versteht. Sie bezeichnet sich als dekoloniale Feministin. Für sie war auch Sowjetunion eine Kolonialmacht, deren vollständige Auflösung sie fordert. Dass sich die Bolschewiki gegen großrussischen Chauvinismus wandten und nach der Gründung der Sowjetunion Programme für die Angleichung der Lebensbedingungen im ganzen Land initiierten, von denen gerade die im Zarismus ausgebeuteten Regionen profitierten. ist für Wjatschinko nur Propaganda. Mit dieser sehr prowestlichen Position ist Wjatschinko er auch im feministischen Lager durchaus umstritten. Das zeigt das im Buch abgedruckte Interview, das Kasakow mit der sozialistischen Feministin Alla Mitrofanowa führte, daran erinnerte, die Menschen haben sich nach der Oktoberrevolution „massenhaft in das politische Leben eingeschaltet über horizontale Institutionen von Sowjets über Schenotdels (Frauenabteilungen) und den Proletkult“. Mitrofanowa bezieht sich auch positiv auf Rosa Luxemburg, grenzt sich aber klar von der Kommunistischen Partei Russlands (KPRF) ab. Diese größte russische Oppositionspartei wird hierzulande als klare Unterstützerin der großrussischen Politik des Putin-Regimes dargestellt. Kosakow zeigt aber, dass es in der Partei auch zahlreiche Mitglieder gibt, die den russischen Einmarsch in die Ukraine klar verurteilen und deshalb wie alle Kriegsgegner*innen in Russland auch Repressalien erleiden. Die sozialkonservative Parteiführung versucht die Kriegsgegner*innen auszugrenzen. Die sind aber vor allem in der jüngeren Generation zu stark, um einfach ausgeschlossen werden zu können. Kosakow gelingt es auch als Kenner der russischen Innenpolitik nicht nur die zahlreichen Spaltungen aller Fraktionen der russischen Linken anschaulich darzustellen. Er kann auch die feinen Differenzierungen zu vermitteln, die in Deutschland beim Thema Russland meist verloren gehen. Hierfür ein Beispiel. Kasakow zeigt auf, dass die Politiker*innen der KPRF, die für die Anerkennung der Donesz-Republiken als Teil Russland aussprachen, gerade einen Krieg vermeiden wollten. Sie stehen wie nicht wenige russische Kriegsgegner*innen auf der Postion, dass eine Mehrheit der Bevölkerung in der Ostukraine auch bei einer demokratischen Abstimmung für ihre Zugehörigkeit zu Russland votieren würden. Den Angriff auf die Ukraine aber lehnen sie entschieden als nationalistische Politik ab. 

Kasakows Buch zeigt wie differenziert und unterschiedlich die linken Kriegsgegner*innen in Russland sind. Doch es gibt zwei Gemeinsamkeiten: alle sind sie von der massiven Repression des Putin-Regimes betroffen. Schon in den ersten Wochen nach Beginn des Einmarsches in die Ukraine sind fast 14000 Kriegsgegner*innen in Russland zumindest kurzzeitig festgenommen worden. Die meisten von ihnen fordern auf, alles zu tun, um das Blutvergießen zu beenden. 

Wenige Stunden nach der Invasion hatte die libertäre Gruppe „Food not Bombs in einen Aufruf gefragt: “ Wer wird die Eingeweide mit den Händlern einsammeln, wem werden Arme und Beine durch Explosionen abgerissen, wessen Familien werden ihre Kinder begraben? Selbstverständlich betrifft dies alles nicht die herrschende Minderheit“. Diese bewegenden Fragen stehen im Aufruf, den die libertäre Moskauer Gruppe „Food not Bombs“ wenige Stunden nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine verfasst hat. Ein Jahr später haben diese Fragen noch an Eindringlichkeit gewonnen. Peter Nowak

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