„Bald wird es nicht mehr die Rote Armee sein, die Auschwitz befreit hat, sondern das Asow-Bataillon“: Marie Rotkopf, "Die deutsche Mentalität und der Krieg“

Wie Deutschland im Ukraine-Konflikt seine Geschichte entsorgt

Marie Rotkopf, Émile Durkheim, "Deutschland über alles. Die deutsche Mentalität und der Krieg", Verlag Matthes & Seitz, 155 Seiten, Übersetzung: Daniel Creutz, Jacques Hatt, Preis: 18,00 €, ISBN: 978-3-7518-0381-6

Geschichtsrevisionismus: Wie Deutschland im Ukraine-Konflikt seine Geschichte entsorgt

„Bald war es nicht mehr die Rote Armee sein, die Auschwitz befreit hat, sondern das Asow-Bataillon“

Marie Rotkopf, „Die deutsche Mentalität und der Krieg“ 

Ein in der Ukraine zerstörter russischer Panzer wurde zum Jahrestag des russischen Einmarsches in die Ukraine auf dem Mittelstreifen des Berliner Boulevards unter den Linden gegenüber der russischen Botschaft aufgebaut. Das Rohr zielte direkt auf dieses russische Territorium in Berlin. Die Idee kam von einer …

… Gruppe rechter Atlantiker*innen, die damit in bewährter Tradition stehen. In den Hochzeiten der Frontstadt Berlin im Kalten Krieg war die Stadt für die Rechten in Deutschland ein Ort der Schmach. Schließlich hatten dort die Soldaten der Roten Armee auf die Ruine des Reichstags die Fahne der Sowjetunion aufgepflanzt. Das war das endgültige Zeichen für die deutsche Niederlage.

Der zerstörte russische Panzer, der auf die russische Botschaft zielt, ist nun 80 Jahre nach der Schlacht von Stalingrad die deutsche Revanche. Das hätte die alten ordensdekorierten Stalingrad-Veteranen sicher gefreut, wenn sie das noch hätten erleben können. Doch die Ostlandreiter haben Nachwuchs bekommen. Rund um den russischen Panzer fanden sich Männer ein, die sich in militärische Fachsimpeleien ergingen und dabei die oft noch jungen Söhne als andächtige Zuhörer dabeihatten. An einen Baum neben den Panzer war ein Gedicht von Günther Kunert mit dem Titel „Ukrainische Nacht“ angebracht, Eine Zeile brachte den deutschen Geschichtsrevisionismus gut zum Ausdruck: „Der Tod ist nicht nur ein Meister aus Deutschland“, lautete eine Zeile. Damit wird Bezug auf das berühmte Verdikt von Paul Celan „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ genommen, mit er das Menschheitsverbrechen der Shoah auf den Punkt brachte. 

Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine kennt dieser deutsche Revisionismus kaum noch Grenzen. Im letzten Jahr rund um den 8. Mai, den Tag des Sieges der Alliierten über NS-Deutschland, war es verboten, die Fahnen der Sowjetunion zu zeigen, der Nation also, die neben den Juden am meisten unter den Verbrechen des NS gelitten hatten, die aber auch einen besonders großen Anteil für den Sieg über den Nationalsozialismus hatten. Deutschlandkritische Linke haben schon vor 30 Jahren antizipiert, was bald kommen würde. 


Nie wieder Russland statt nie wieder Deutschland

Trotzdem konnten sich viele von uns nicht vorstellen, wie schnell der deutsche Geschichtsrevisionismus marschiert und welche verheerenden ideologischen Einfluss er auch bei Menschen und Medien hinterlassen hat, die in den letzten 30 Jahren ihre Stimme erhoben haben gegen jeden Antisemitismus und den deutschen Patriotismus auch in seiner angeblich zivilisierten Form als „deutsches Sommermärchen“ während der Fußball-Weltmeisterschaft ablehnten. Heute tragen einige von ihnen große Plakate, auf denen nicht mehr wie vor 30 Jahren „Nie wieder Deutschland“, sondern „Nie wieder Russland“ steht. Das ist am 25. Februar geschehen, wo zwei Männer mit genau dieser Parole am Rande der Kundgebung „Aufstand für den Frieden“ aufgetaucht waren. An dieser Kundgebung in der Tradition der deutschen Friedensbewegung gäbe es vieles zu kritisieren. Doch die Parole zeigt eine Rechtsentwicklung auch in einem Milieu, das eigentlich mal gegen den Wiederaufstieg Deutschlands angetreten war. 

Heute fordern sie Waffen für eine Spielart des ukrainischen Nationalismus, die mit dem NS kooperierte und sich von diesen in ihren Hass auf Juden, Russen und Polen nicht übertreffen lassen wollten. Vor der Roten Armee flohen diese 1944 ukrainischen Nationalisten ins deutsche Reich, während in den Vernichtungslagern die wenigen überlebenden Juden und NS-Gegner*innen sehnsüchtig auf den Tag ihrer Befreiung warteten. 

„Wann sind die Russen endlich da“, fragten sich in Jurek Beckers Roman „Jakob der Lügner“ die Ghetto-Bewohner*innen sehnsüchtig den Mann, der vorgab, durch ein verstecktes Radio vom stetigen Vormarsch der Roten Armee erfahren zu haben. Seine Informationen gaben den Ghettobewohner*innen für eine Zeit lang Kraft und Überlebenswillen. Doch leider konnte die Rote Armee die Wehrmacht und ihre Hilfswilligen,darunter die ukrainischen Nationalist*innen, nicht schnell genug vertreiben. Die letzte Szene des Buches erzählt, wie die Frauen und Männer, die so auf die Rote Armee gehofft hatten, zu den Zügen geführt werden, die sie in die Vernichtungslager bringen.

Eine deutschlandkritische Linke war einmal angetreten, das Vermächtnis dieser Männer und Frauen lebendig zu halten. Damit verbietet sich jede Parteinahme für nationalistische Bewegungen und ihre Nachfahr*innen, die mit Wehrmacht und Einsatzgruppen ins Nazideutschland geflohen sind. Das ist keine Unterstützung für den nationalistischen Krieg des Putin-Regimes, aber eine klare Absage an jeden Nationalismus, auch den ukrainischen. In München konnte man Mitte Februar 2023 auf einer proukrainischen Demonstration die Parole „Ukrainische Armee und Deutsche Waffen ist Sieg für die Ukraine“ lesen. München war die Hochburg der geflohenen Bandera-Nationalist*innen nach dem 2. Weltkrieg. Dort ist auch ihr Anführer Stepan Bandera begraben. Der Antisemit und Ultranationalist wird regelmässig von Vertreter*innen der Nach-Maidan-Ukraine geehrt, auch vom langjährigen ukrainischen Botschafter Melnyk. 

Wer befreite Auschwitz und wer ermordete die Juden?

Es wäre an der Zeit, wenn die Linke auch bei der Beurteilung der Situation in der Ukraine ihre Nationalismuskritik schärfen würde. Dann würden sie den Mythos vom einheitlich kämpfenden ukrainischen Volks nicht ständig wiederholen. Wie jeder Nationalismus produziert auch der ukrainische Ausschüsse. 

So wird in der taz eine Ärztin porträtiert, die darüber klagte, dass es in Charkiw, einer Stadt in der Ostukraine, von russischen Kollaborateuren wimmelt, die sie auch bei den ukrainischen Behörden anzeigt. Auf die Idee, dass es sich vielleicht um Bewohner*innen handelt, die mit den außenpolitischen Schwenk Richtung EU nach den Maidan-Unruhen von 2014 nicht einverstanden sind, kommt sie und die Korrespondentin nicht. Wer nicht mitmarschiert im nationalen Kollektiv wird kurzerhand zum Feind erklärt. Das scheint auch die Leipziger Linksparteipolitikerin Juliane Nagel nicht stören, die im Interview mit dem Neuen Deutschland über einen Besuch bei dem Teil der ukrainischen Linken berichtete, der sich auf den Boden der Verhältnisse nach dem Maidan-Umsturz stellt. Alle Parteien, die das nicht machten, sind verboten, darunter eine große bürgerliche Partei, die bei bürgerlichen Wahlen durchaus gewinnen könnte. Auch die Sozialistische und die Kommunistische Partei ist in der heutigen Ukraine verboten, sie sind sozialkonservativ und von einem emanzipatorischen Ansatz aus zu kritisieren. Das sollte aber nicht daran hindern, die Aufhebung des Verbots dieser Parteien zu fordern. Darüber gibt es aber bei Nagel keine klare Aussage. Dafür spricht sie von jenen „orthodoxen Hammer- und Sichel-Parteien“, die in der Ukraine so verhasst seien. Dabei kommt ihr nicht der Gedanke, dass sich in solchen Parteien auch die Befreier*innen der Ukraine vom NS und besonders des Vernichtungslagers Auschwitz organisiert haben. 

Es war immer bekannt, dass ukrainische Soldaten innerhalb der Roten Armee Auschwitz befreiten. Ihnen sollte auch heute noch unser Gedenken gehören. Wir sollten aber auch nicht vergessen, dass die prodeutschen ukrainischen Nationalist*innen nicht nur wichtige Hilfsdienste bei der Vernichtung der Juden geleistet haben. In vielen Gegenden der Ukraine haben sie auch das Mordprogramm an den Juden vorantrieben. Hier sollte es eine differenzierte Erinnerung geben. 

Damit sollte einem Geschichtsrevisionismus vorgebeugt werden, wie er in dem Text vorangestellten Zitat gut zusammengefasst ist. „Bald wird es nicht mehr die Rote Armee sein, die Auschwitz befreit hat, sondern das Asow-Bataillon“ bringt die Umdeutung der Geschichte auf den Punkt. Marie Rotkopf hat den klugen Satz in der von ihr neu herausgegebenen und kommentierten Schrift „Deutschland über alles“ geschrieben. Verfasst hatte den Text der französische Soziologe Emile Durkheim 1915 während des 1. Weltkriegs angesichts der brutalen Kriegsführung der deutschen Wehrmacht. Es ist erfreulich, dass der Verlag Matthes & Seitz diese fast 110 Jahre alte Deutschlandkritik wiederaufgelegt hat. An ihr gäbe es aus einer linken Perspektive viel zu kritisieren, vor allem ihr Bezug auf die bürgerliche Zivilisation, von der sich Deutschland angeblich entfernt hat. Besonders auffallend ist der Eurozentrismus des Textes, der die Kolonialverbrechen der so hochgelobten zivilisierten Welt an den Menschen im globalen Süden völlig ignoriert. Trotzdem erfasst Durkheim die besondere Ausprägung des deutschen Nationalismus und geht dabei auf die wichtige Rolle von Heinrich von Treitschke ein. Noch erfreulicher sind die klugen Gedanken, die sich Marie Rotkopf über Durkheims Schrift und seine Aktualität gemacht hat. Vor 30 Jahren wäre der schmale Band bei deutschlandkritischen Linken ein Beststeller geworden. Doch einige von ihnen tragen jetzt lieber „Nie wieder Russland“-Plakate. 

80 Jahre nach der deutschen Niederlage von Stalingrad – Wer nicht feiert, hat schon verloren 

Darum ist es umso wichtiger, sich gegen jeden Antisemitismus und jeden deutschen Geschichtsrevisionismus wendet. Daher sollte es bald eine Initiative anlässlich des 80 Jahrestag der deutschen Niederlage in Stalingrad geben. Dafür sollte das alte antifaschistische Motto „80 Jahre sowjetischer Sieg bei Stalingrad – wer nicht feiert hat schon verloren“ verwendet werden. Dabei sollte klargemacht werden, dass das aktuelle nationalistische russische Regime nicht die Fortsetzung der Sowjetunion ist. Eine solche Feier des Sieges über NS-Deutschland ist kein Affront für „die Ukraine“, sondern für die deutschfreundlichen Ultranationalist*innen. Juden und Antifaschist*innen in der Ukraine und aller Welt haben den Sieg von Stalingrad herbeigesehnt. Ihnen sollten wir 80 Jahre später gedenken.

Hier der Literaturtipp:

Marie RotkopfÉmile Durkheim„Deutschland über alles. Die deutsche Mentalität und der Krieg“, Verlag Matthes & Seitz, 155 Seiten, Übersetzung: Daniel CreutzJacques Hatt, Preis: 18,00 €, ISBN: 978-3-7518-0381-6